Zum ersten Mal: Notbremsung mit dem Zug

oder: Vorsicht, zerbrechlich

Es gibt Dinge, die mich so schnell nicht wieder loslassen. Dinge, über die ich nachdenken muss, ohne dass ich es möchte, ohne, dass es zu etwas führt: zu einer Klärung oder einer Erkenntnis. Ich versuche, es nicht zu tun. Aber es gelingt mir nicht immer.

Vor ein paar Tagen waren wir auf dem Rückweg von unserem Sommerurlaub in Frankreich. Wir sind mit der Bahn gefahren, von Paris bis Frankfurt, von Frankfurt nach Berlin. Kurz nachdem wir Marburg passiert hatten, leitete der Zug eine Notbremsung ein. In dem Moment war es uns nicht klar, niemand von uns hatte je zuvor eine Notbremsung erlebt. Im Zug vergeht eine halbe Ewigkeit, bis er zum Stillstand kommt. Keine quietschenden Reifen, kein Schlingern. Aber dennoch: eher abruptes, unerwartetes Anhalten.

Draußen schüttete es, der Regen lief in Rinnsalen die Scheiben des Waggons hinab. Wir sahen in einiger Entfernung Häuser, einige Meter neben den Gleisen einen schlammigen Weg. Eine Frau trug ihren Hund auf den Armen. „Vielleicht ist er vom Zug angefahren worden“, sagte Supergirl. „Und deshalb musste er anhalten.“ „Das denke ich nicht“, erwiderte ich. „Wenn der Zug wegen des Hundes hätte anhalten müssen, dürfte die Frau jetzt nicht einfach so weggehen.“ Ich glaubte auch nicht, dass von dem Hund noch viel übrig wäre, hätte der ICE ihn erwischt.

Wir standen auf freier Strecke in leichter Schräglage in einer Kurve. Mehrere Minuten lang wussten wir nicht, warum. Ich dachte an einen technischen Defekt und war angespannt. Ich sah uns schon im Regen mit unseren Koffern neben dem Gleisen zum nächsten Bahnhof zurücklaufen. Dann gab es eine Durchsage, in der es hieß, dass der Zug außerplanmäßig gehalten habe und der Grund dafür noch nicht klar sei. Die zweite Durchsage folgte kurze Zeit später: „Der Zug hat eine Person überfahren.“ Stille. Ungläubige Gesichter. Entsetzen.

Das erste Mal in meinem Leben saß ich im ersten Waggon direkt hinter der Lokomotive. Wir hatten nichts gesehen, nichts gehört, nichts gespürt – bis auf die Bremsung. „Der Zug hat eine Person überfahren.“ War es ein Unfall, ein Suizid? Es gab keinen Bahnübergang in der Nähe, keinen Grund, mitten auf der Strecke die Gleise zu überqueren. War wirklich jemand absichtlich vor den Zug geraten? Mir gingen hundert Gedanken durch den Kopf. Die Mädchen – betreten. Mein Mann – betreten.

Ich verspüre immer wieder so eine unbändige Gier nach Leben, nach Am-Leben-Sein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es irgendwann endet: das Leben. Ich will mir das gar nicht vorstellen. Wir saßen in diesem Zug mir unseren Koffern voller Eindrücke, die wir im Urlaub gesammelt hatten. Wir hatten so viel Zeit miteinander verbracht, Zeit, die mich so gierig auf noch mehr Zeit, noch mehr Leben gemacht hatte. Jeder Tag ein Geschenk. Und dann dieser Gedanke, dass sich jemand das Leben genommen haben könnte. Sehr wahrscheinlich das Leben genommen hatte. Vor wenigen Minuten, hier, auf der Strecke zwischen Frankfurt und Berlin.

Ich versuchte, die Fassung zu bewahren, allein schon wegen meiner Töchter. Wir sahen den Lokführer, der die Lok verließ, an uns vorbeikam und kurz darauf wieder zurückkehrte. Ich hätte gern etwas gesagt wie: „Es tut mir so leid, dass Sie das erleben mussten.“ Noch im Zug hatte ich nachgelesen: Statistisch gesehen trifft ein sogenannter Schienensuizid jede Lokführerin oder jeden Lokführer ein bis zwei Mal im Berufsleben. Wie war es bei unserem Lokführer? Was würde dieses Erlebnis mit ihm machen? Auch dazu recherchierte ich noch im Zug ebenso wie zu den Ursachen für Suizide.

Wir standen etwa zwei Stunden auf offener Strecke. Die Notärztin kam und wurde in die Lok vorgelassen, ein Polizeibeamter vernahm den Lokführer. Später erschien mutmaßlich jemand von der Kriminalpolizei, vielleicht auch der Staatsanwalt – wir sahen einen Mann in Stiefeln außerhalb des Zuges an unserem Waggon vorbeilaufen. Der Lokführer wurde abgelöst, die Strecke wieder freigegeben. Es regnete noch immer, ein grauer Herbsttag Anfang August.

Plötzlich musste ich daran denken, dass es bestimmt Menschen gibt, die die Person, die sich mutmaßlich umgebracht hatte, liebhaben. Die jetzt mit diesem Verlust umgehen müssen. Das machte mich so unsagbar traurig und deprimiert, dass ich ein paar Tränen vergoss, die nur Supergirl bemerkte. Sie machte mir Zeichen, als ob sie mit mehr reden wollte, aber ich winkte ab. Ich glaube, es hätte die Sache in diesem Moment nur noch schlimmer für mich gemacht. Manchmal ist es besser, man weint für sich allein. Aber vielleicht stimmt das nicht.

PS Unser Zug fuhr nur noch bis nach Kassel, dann wurde er unter einem anderen Namen als neuer ICE nach Berlin eingesetzt, allerdings erst weitere zwei Stunden später. Wir durften im Zug bleiben, vertrieben uns die Zeit. Statt wie geplant um 18.30 Uhr kamen wir völlig gerädert um 22.30 Uhr in Berlin an, nachdem wir um 9 Uhr in Paris losgefahren waren. Wären wir wegen eines technischen Defekts verspätet gewesen, hätte ich mich aufgeregt, mir die Haare gerauft, lamentiert, über eine Entschädigung nachgedacht. Aber in diesem Fall erschien mir unsere Verspätung vollkommen belanglos und unwichtig.

PPS Wir wissen nach wie vor nichts über den Vorfall. Mein Mann, Supergirl und ich haben unabhängig voneinander versucht herauszufinden, was genau passiert war, allerdings ohne Erfolg. Wir konnten nicht in Erfahrung bringen, ob es ein Unfall war oder ein Suizid. Wir wissen nicht, ob für die überfahrende Person ein Notarzt kam oder der Leichenwagen. Ob es eine Frau war oder ein Mann. Ob sie alt war oder jung. Wir kennen die Motive nicht – und werden sie nie erfahren. Heute habe ich darüber nachgelesen, wie Suizide verhindern werden können. Ansonsten will ich versuchen, das Thema ruhen zu lassen.

3 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Notbremsung mit dem Zug“

  1. „Es gibt Dinge, die mich so schnell nicht wieder loslassen. Dinge, über die ich nachdenken muss, ohne dass ich es möchte, ohne, dass es zu etwas führt: zu einer Klärung oder einer Erkenntnis. Ich versuche, es nicht zu tun. Aber es gelingt mir nicht immer.“

    Den Schattenseiten innen und aussen nicht ausweichen. Es ist die Arbeit, Dinge die nicht geändert werden können auszuhalten.

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