oder: Opfer sein
Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich eine Katze aus Steingut. Sie war nur wenige Zentimeter groß und bunt bemalt, stammte aus einem Überraschungsei und war mir wahnsinnig wichtig. Ich glaube, dass es einigermaßen typisch für mich ist, mein Herz nicht nur an Menschen zu verlieren, sondern auch an Dinge. Vieles hat in gewisser Weise eine Seele für mich, auch wenn ich natürlich weiß, dass das Quatsch ist. Diese Katze verlor ich im Urlaub, ich weiß nicht mehr, wo wir waren, ich müsste meine Eltern fragen. Als ich den Verlust bemerkte, bildete sich in kürzester Zeit ein Suchtrupp, der aus meiner Familie und Freunden meiner Eltern bestand. In meiner Erinnerung wurde ein gesamtes Maisfeld durchkämmt, die Katze blieb verschwunden, ich war untröstlich.
Meine Mutter schrieb den Hersteller an und fragte, ob er die Katze ersetzen könnte. Da sich alles in den 80er-Jahren abspielte, handelte es sich um einen Brief, nicht etwa um eine E-Mail. Der Hersteller schickte uns eine Katze (vielleicht sogar mehrere?), aber sie sah anders aus und konnte die Lücke, die entstanden war, nicht recht füllen. Wenn ich heute darüber nachdenke, rührt es mich, wie sehr sich meine Mutter darum bemüht hat, den Verlust auszugleichen.
Seit ein paar Tagen habe ich ein Bild in meinem Kopf, das ungefragt immer wieder erscheint, das ich nicht loswerde, das sich regelrecht aufdrängt. Ich sehe uns in Rom zu unserem Mietwagen gehen, Supergirl ist zuerst dort, danach ich. Fast zeitgleich sehen wir eine zerbrochene Scheibe, es ist die kleine am Fenster der Rückbank. Supergirl sagt „Scheiße“, was sonst nicht ihre Art ist. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich an einen Schaden, daran, dass jemand aus Versehen gegen die Scheibe gestoßen ist. Dann öffne ich die hintere Tür. Die Sitze der Rückbank sind hinuntergeklappt, der Kofferraum ist so gut wie leer. Unsere Sachen – zwei Koffer, vier Rucksäcke – fehlen, außerdem drei Jacken. Nur meine ist noch da und die von Belle, ihr Schal, den sie im vergangenen Jahr zum Geburtstag bekommen hatte, sowie eine Plastiktüte mit einer Wasserflasche und drei Paar Socken, die wir in Italien gekauft haben. (Die Socken haben wir nicht gebraucht. Wir haben sie einem älteren Mann abgekauft, der uns leidgetan hat.)
Es gibt noch ein weiteres Bild, das ich nicht loswerde: Ich sehe meine drei Töchter gemeinsam unter einem Regenschirm stehen, alle weinen. Sie weinen vor Schreck und um ihre Sachen, Dinge, die ihnen wichtig waren, besondere Kleidungsstücke, ihr Tablet, ihre Kuscheltiere. Dinge, die für sie eine Seele haben, zumindest für Baby Boss.
Ich wünschte, es wäre nie zu dieser Szene gekommen, ich möchte die Zeit zurückdrehen, es ist eine schmerzhafte Erinnerung, ich möchte sie abschütteln ebenso wie das Bild mit der zerbrochenen Autoscheibe und den Blick in den leeren Kofferraum.
Wir waren auf dem Rückweg nach Berlin, hatten eine wunderschöne Woche an der Amalfiküste verbracht, der Rückflug ging ab Rom, wir wollten eine kleine Runde durch die Altstadt drehen. Wir waren am helllichten Tag unterwegs, irgendwann zwischen 13 und 15 Uhr, hatten das Auto in einer ganz normalen, eher stark befahrenen Straße geparkt, schräg gegenüber einem Hotel, in dem mein Mann schon mal während einer Dienstreise untergebracht war. Es war ein Parkplatz mit Parkuhr, alles schaute normal und unbedenklich aus. Wäre nichts passiert, hätte ich das Auto jederzeit wieder dort abgestellt, jetzt würde ich unseren gepackten Wagen nie wieder unbeaufsichtigt irgendwo stehenlassen, noch nicht einmal auf einem Rastplatz, ich könnte es einfach nicht.
Die Momente, in denen einen die Stresshormone in die Adern schießen, brennen sich ein, es lässt sich wahrscheinlich nicht verhindern, es hat bestimmt sogar mit den Stresshormonen zu tun.
Die Reisepässe der Mädchen befanden sich im Wagen, wir fahren von Polizeirevier zu Polizeirevier, erst im dritten ist jemand bereit, die Anzeige aufzunehmen, wir brauchen sie ganz dringend, denn mit ihr können wir vielleicht auch ohne Pässe zurück nach Berlin fliegen. Wir wünschen uns unsere Koffer zurück, und wenn das schon nicht geht, so wünschen wir uns wenigstens zurück nach Hause. Was sollen wir denn auch tun, wenn es nicht klappt? Wir haben nichts für eine weitere Übernachtung, es ist alles geklaut. Keine Zahnbürste, kein Pyjama, keine Wechselwäsche.
Mit Ach und Krach erreichen wir den Flughafen, auf der Autobahn zieht es durch das eingeschlagene Fenster. Die Kinder fangen immer wieder an zu weinen, vor allem Baby Boss.
In mir kocht die Wut, ich denke über die Hölle nach und darüber, ob böse Menschen darin landen. Aber eigentlich ist es, wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul in einem Interview sagte, das ich mal gelesen habe: in der Aggression steckt ganz oft Trauer. Und ja, so ist es auch bei mir. Ich bin traurig, unsagbar traurig, und zutiefst getroffen. Erschüttert. Bis ins Mark. Und dabei bin ich nicht das erste Mal bestohlen worden. Dennoch frage ich mich jedes Mal wieder, wie ein Mensch einem anderen so etwas antun kann. Es geht mir nicht so sehr um den materiellen Schaden, sondern um diesen gewalttätigen Akt, dieses Eindringen in meine persönliche Sphäre. Um das Leid, das dadurch verursacht wird. „Du sollst nicht stehlen“ ist eines der zehn Gebote. Es ist wichtig. Es ist ein Grundsatz für das menschliche Miteinander, das Leben in einer Gemeinschaft.
Wir besteigen das Flugzeug ohne die Reisepässe der Mädchen, der Mann am Counter unserer Fluggesellschaft sagt: „Nach Hause geht immer.“ Wir geben kein Gepäck auf. Ich fühle mich nackt und bloß und leer. Auf dem Rückflug weint Baby Boss mehrmals bitterlich. Ich weine mit.
Wir kommen nach 21 Uhr in Berlin an, Baby Boss trägt auf dem Rückweg mit der S-Bahn meine Jacke, Belle trägt ihre, der Rest von uns ist im Pullover unterwegs, es ist deutlich zu kalt dafür.
In der ersten Nacht nach dem Diebstahl schlafe ich schlecht, mir tut alles weh. Wenn ich aufwache, sehe ich vor meinem geistigen Auge die zerschlagene Scheibe und meine weinenden Töchter unter dem Regenschirm. Ich stelle mir vor, wie unsere Kleidung im Straßengraben liegt, die Kuscheltiere, die so liebgehabt werden. Erst später fällt mir auf, dass die Diebe vielleicht doch alles verwerten, was sie stehlen, denn schließlich haben sie drei Jacken gezielt mitgenommen. Ich hoffe, dass es so ist. Ich hoffe, dass sich irgendein armes Kind über ein Kuscheltier freut, das einer meiner Töchter gehörte. (Diese Hoffnung bitte nicht zerstören.) Es waren Geschenke zur Geburt, zur Taufe, zu Weihnachten und Kuscheltiere, die meine Töchter mit ihrem Taschengeld bezahlt haben.
Seitdem wir zurück sind, machen mein Mann und ich es wie meine Mutter damals mit der Katze – wir versuchen, den Verlust auszugleichen. Es ist nicht leicht, denn viele Kuscheltiere sind schon sehr alt und nicht mehr erhältlich. Vielleicht gelingt es uns trotzdem, sie zu finden, zumindest teilweise. Die Bilder des aufgebrochenen Autos werden wir damit nicht vertreiben können.
PS Wir neigen dazu, mit leichtem Gepäck zu reisen. Für eine Woche hatten wir für uns alle fünf zwei große Koffer dabei. Wir tragen keine Designer-Klamotten und keinen Schmuck. Für die Versicherung haben wir eine Aufstellung der gestohlenen Dinge erstellt. Der Schaden beträgt fast 2.700 Euro.
PPS Ich habe eine Weile überlegt, ob ich über diese Erfahrung schreibe. Opfer zu sein fühlt sich für mich manchmal an, als hätte ich etwas falsch gemacht.
Ach du Sch***e! Das ist wirklich eine schlimme Erfahrung… Kommt gut und schnell drüber hinweg!
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Ich möchte euch trösten. Es ist Scheiße, aber auch in Rom gibt es mehr gute als schlechte Menschen (Banden).
Vielleicht geht man mit den Kindern was Neues, was Ihnen jetzt gefällt, gut tut, kaufen. An das alte bleiben schöne Erinnerungen, die können und brauchen nicht ersetzt werden.
Behaltet das Schöne, das ihr gesehen habt und die guten Begegnungen, in guter Erinnerung!
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Lieber Dieter, danke für deine Nachricht und die aufbauenden Worte.
Mit den Kindern war ich bereits shoppen. Sie fanden es schön, wenn sie Einzelteile mit identischen Stücken ersetzen konnten. Aber sie haben sich auch über Neues gefreut. Und mit Baby Boss habe ich das erste Kuscheltier schon am Tag nach unserer Rückkehr besorgt: ein Elefant aus dem Berliner Zoo, den sie dort im Sommer von ihrem Taschengeld gekauft hatte.
Liebe Grüße aus Berlin! Sophie
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Liebe Sophie, bist halt eine gute Mama. Viel Freude an den „wieder gefundenen“ Sachen.Den Kindern wünschen wir morgen einen guten Schulstart und Sebi und Dir schöne Gespräche mit Kollegen. Liebe Grüße Sonja und Dieter
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Echt jetzt? War das mit Rom doch keine gute Idee. Und ich hatte euch fest die Daumen gedrückt. Das tut mir so leid. Ich verstehe gut, wie belämmert ihr euch fühlt. Ich kenne auch den heiß-kalten Schauer, der einen durchfährt, wenn man glaubt, etwas persönlich Wertvolles verloren zu haben. Schlüssel, Tasche, das Auto auf dem Parkplatz nicht finden … Zum Glück war es bisher dann doch nie so, es fand sich alles wieder an. Kommt gut drüber weg, viel Erfolg beim Neufinden verlorener Plüschtiere, und bitte, bitte keinen grundsätzlichen Zweifel an Italien als Reiseland entwickeln! Liebe Grüße, Anke
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Nein, Italien als Reiseland ist wunderschön! Und wir hatten eine fantastische Woche an der Amalfiküste, von der ich hier bestimmt noch erzählen werde. Es war nur eben ein riesiger Schock am Mittwoch: Man ist so guter Dinge und hatte eine so tolle Zeit und dann ist man eben doch mal zur falschen Zeit am falschen Ort und erlebt so etwas. Das war schon schlimm.
Ich frage mich auch immer wieder, ob es gut ist, sein Herz an materielle Dinge zu hängen. Aber für mich zeigt das eben auch, dass ich die Dinge wertschätze. Und meinen Kindern geht es genauso oder zumindest ähnlich. Von ihnen hat niemand um seine Kleidung geweint, aber das mit den Kuscheltieren war/ist schlimm, abgestuft nach dem Alter der Kinder kommen sie besser oder schlechter damit zurecht. Sie hatten leider insgesamt neun Kuscheltiere dabei! Das zeigt eben auch, dass sie ihnen wichtig sind.
Ich habe gerade darüber nachgedacht, was Dieter weiter oben geschrieben hat. An die alten Dinge bleiben schöne Erinnerungen und die können oder brauchen nicht ersetzt zu werden. Das stimmt auf jeden Fall. Man wird ja auch nicht all seine Kuscheltiere sein Leben lang aufheben. Aber sich selbst davon zu trennen, ist etwas ganz anderes als sie auf diese Weise zu verlieren.
Ich habe übrigens mein Lieblingskleid, das mit im Koffer steckte, gestern online gebraucht gekauft. Zwar nicht in derselben Farbe, aber ich freue mich trotzdem wie eine Schneekönigin.
Liebe Grüße zurück!
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Grundsätzliche Zweifel könnten aber mit der Zeit dennoch aufkommen, weil es leider immer wieder passiert. Bei mir auf der Abifahrt 1998 – mitten in Florenz wurde unser Fiat Uno ebenfalls leer geräumt 😩
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Oh je, das tut mir leid. Ich hoffe, dass sich ein paar der verlorenen Schätze wieder ersetzen lassen und die Kinder und Du das hoffentlich gut verarbeiten und letztlich wegstecken könnt – auch wenn es wirklich eine schmerzliche Erfahrung war. Herzliche Sonntagsgrüße!
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Vielen Dank für deine lieben Worte. Ich hoffe das auch sehr. Als vor einigen Jahren mein Fahrrad gestohlen wurde (aus unserem Hausflur übrigens!!!), war ich auch ganz froh, als ich wieder ein neues hatte. Ich denke, manchmal hilft der Ersatz beim Verarbeiten.
Herzliche Grüße zurück!
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