Zum ersten Mal: Ferien bei den Royals

oder: Noch so ein Schreibprojekt

Um ehrlich zu sein: Als ich wir ausgerechnet vor dem Chickenham Palast anhielten, habe ich mich schon ein bisschen gewundert. Ich kenne ihn aus dem Fernsehen und aus den Zeitschriften über Adlige, die meine Oma abonniert hatte und die ich so gern lese. Ich weiß, dass hier die englische Königsfamilie wohnt, also zumindest Teile davon. Der wichtigste, wenn man es genau nimmt: Queen Victoria, die Fünfte, die Königin von England. Was sollte ich dann hier? Hilfesuchend schaute ich Mister Harris an, den Betreuer meiner Sprachschule. Vielleicht war das ja nur ein Zwischenstopp und er wollte mir eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen, noch bevor ich meine Gastfamilie kennenlernen sollte? Aber dazu hätten wir nicht extra aus dem Taxi steigen müssen. Ein Blick von drinnen hätte mir für den Moment vollkommen genügt. Ich war nämlich ganz schön aufgeregt und wollte die erste Begegnung mit der englischen Familie, die mich für drei Wochen bei sich aufnehmen wollte, gern hinter mich bringen.

Mister Harris lächelte mir aufmunternd zu. Dann hob er meinen Koffer aus dem Auto, zahlte und das Taxi fuhr davon. Das überraschte mich erst recht. Also doch kein Sightseeing? „Ist es noch weit?“, fragte ich. Mister Harris zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. Auch er schien ein wenig ratlos zu sein. Er zog einen zerknitterten Zettel aus der Tasche seiner zerknitterten Cordhose und las die Adresse, die darauf geschrieben stand. Er hielt ihn mir hin und sagte auf Englisch: „Kein Zweifel, Mädchen. Hier soll ich dich abliefern.“ Ich zog die Augenbrauen hoch. Vielleicht hatte ich ihn einfach nicht richtig verstanden. Im Kopf ging ich den Satz noch einmal Wort für Wort durch und übersetzte, so gut ich konnte. „Sie wissen schon, dass das der Chickenham Palast ist, oder?“, fragte ich und nuckelte aufgeregt an meiner Unterlippe. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen. Es konnte sich doch nur um einen Irrtum handeln. Mister Harris zuckte erneut mit den Schultern und nickte. „Darf ich mal?“, fragte ich und streckte meine Hand nach dem Zettel aus. Er gab ihn mir und ich las: Familie Countbutton, Chickenham Road 1. „Gibt es nur die eine Chickenham Road in London?“, fragte ich. „Yes, my dear“, sagte der Betreuer und zog die Augenbrauen hoch.

Für einen kurzen Moment standen wir beide wie angewurzelt herum und hingen unseren Gedanken nach. Ich ließ meinen Blick über den Palast und die Umgebung schweifen. Vielleicht war es das Einfachste, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Meine Oma hatte das immer gesagt. Also griff ich beherzt nach meinem Rollkoffer und fragte: „Wollen wir?“ Mister Harris nickte wieder und wir gingen mit langsamen Schritten in Richtung des großen Tores, hinter dem sich der Chickenham Palast majestätisch erhob. Es war ein heißer Sommertag und die Luft über dem sandigen Vorplatz flirrte.

Plötzlich wurde mir klar, dass das alles nur ein Scherz war. Der berühmte englische Humor. Wir würden jetzt noch einige weitere gemessene Schritte machen, mit meinem über die Kieswege holpernden Rollkoffer im Schlepptau. Sobald wir die Wachen erreicht hätten, die mit ihren Fellmützen in weißen Hütten links und rechts vor dem Tor standen, würde Mister Harris laut auflachen, mir mit seiner großen Hand auf den Rücken klopfen und sagen: „Diese Deutschen, die glauben einem auch wirklich jeden Unsinn!“ Ich machte mich innerlich auf diesen Moment gefasst, aber zu meiner großen Überraschung passierte nichts dergleichen. Mister Harris machte viel eher den Eindruck, als ob er gleich anfangen würde zu weinen. Ich sah, wie seine Hand zitterte, als er aus seinem Rucksack weitere Unterlagen hervorholte, die ohne Zweifel mit meiner Sprachreise zu tun hatten, und sie einem der Wachleute vors ernste Gesicht hielt. „Mister Harris, ist alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt. „Sicher“, gab er zur Antwort und fing an, aufgeregt und so schnell mit dem Wachmann zu sprechen, dass ich kein einziges Wort verstand. Der Wachmann zuckte mit den Schultern und deutete dann auf eine große goldene Klingel, die Mister Harris ehrfürchtig drückte. Er sah aus, als hätte er sich dazu lieber einen weißen Handschuh übergezogen. Vielleicht befürchtete er, hässliche Fingerabdrücke zu hinterlassen. Entschuldigend schaute er in meine Richtung, bevor die Gegensprechanlage knackte und er hastig ein paar Erklärungen ausspuckte. Das reimte ich mir jedenfalls zusammen.

Kurz darauf kam ein wichtig aussehender Mann in dunkelgrauem Anzug quer über den Vorplatz des Chickenham Palastes gestürmt und ließ sich nach einem kurzen Hin und Her die Unterlagen von Mister Harris durch den Zaun reichen. Dann machte er wahnsinnig große Augen, so etwas habe ich noch nie gesehen. Er machte dem Wachmann ein Zeichen, woraufhin dieser widerwillig das Tor öffnete. 

Spätestens jetzt begann ich mich zu fragen, ob meinen Eltern überhaupt klar war, in was für eine unmögliche Situation sie mich gebracht hatten. Das war doch alles ihre Idee gewesen: drei Wochen bei einer englischen Gastfamilie! Hatten sie die Königin höchstselbst dazu ausgesucht oder was? Wahrscheinlich sollte die mir auch gleich noch ein paar Manieren beibringen. Das würde meinen Eltern ähnlichsehen. Betreten schaute ich an mir herab: auf meinen ausgewaschenen Jeansrock und die ausgelatschten Turnschuhe. Meine Eltern hätten mir ruhig einen Hinweis geben können. Ich würde sie nachher gleich anrufen. Wobei, nein, das würde ich nicht. Zur Strafe würde ich mich drei Wochen lang gar nicht melden oder nur nichtssagende Emojis verschicken.

Der wichtig aussehende Mann stürmte mit energischen Schritten durch einen Torbogen, Mister Harris setzte ihm nach. Ich versuchte, den Abstand nicht zu groß werden zu lassen, und begann zu rennen. Meinen Koffer riss ich hinter mir her, dass der Kies nur so spritzte und sich eine der Rollen mit einem leisen Knacken verabschiedete und auf dem Weg liegenblieb. So ein kleines schwarzes zerschrammtes Ding auf dem ordentlich geharkten Kies. Der Weg wirkte wie beschmutzt. Es war mir unangenehm.

Vor einer großen Tür hielt der wichtige Mann, den ich „VIP“ getauft hatte, abrupt an. Aber das bemerkte ich nicht beziehungsweise leider erst zu spät, weil ich nur noch Augen für meinen amputierten Koffer hatte, den ich hinter mir durch die Luft sausen ließ. Wirklich, er stand fast waagerecht, so schnell musste ich laufen. Jedenfalls prallte ich mit voller Wucht gegen Mister Harris und Mister Harris prallte gegen VIP, der gerade die Hand nach einem großen Messingring ausgestreckt hatte. Wir fielen alle hin und bildeten so eine Art Rugby-Knäuel: Ganz unten lag VIP auf dem staubigen Kiesweg, dann kam Mister Harris in seiner braunen Cordhose, die über dem schicken Anzug von VIP besonders schäbig aussah. Ich selbst lag halb auf Mister Harris. Und mein Koffer segelte noch einen Moment durch die Luft, landete dann ausgerechnet auf VIPs ausgestrecktem Arm und sprang auf. Meine gesamte Kleidung quoll aus dem Koffer und bedeckte Mister Harris in seiner braunen Cordhose und VIP im grauen Anzug. Der schrie vor Schmerz oder Ärger laut auf, so dass mir der Hitze zum Trotz das Blut in den Adern gefror.

Ich schwöre es: In dem Moment öffnete sich die Tür und die Queen trat heraus, umgeben von einer Traube niedlicher Cocker Spaniels. Das sind die Lieblingshunde von Victoria, das weiß ich aus den Zeitschriften meiner Oma. Sie schaute ganz bestürzt auf das Knäuel, und Mister Harris und VIP versuchten, sich so schnell wie möglich aufzurappeln. VIP gelang es zuerst, obwohl Mister Harris auf ihm gelegen hatte. Er schüttelte meine Kleidung zu Boden und hielt aus unerklärlichen Gründen eines meiner Kuscheltiere in der Hand. Es war Froschi, ein etwas in die Jahre gekommener, abgewetzter Frosch, den ich auf jede Reise mitnehme. VIP hielt ihn förmlich am Schlafittchen, als ob mein Kuscheltier schuld wäre an dem Unglück. Froschis lange Arme und Beine baumelten kraftlos an seinem grünen Körper herunter. Auch Mister Harris kam auf die Füße, nahm dann mich vom Boden hoch und stellte mich auf, als sei ich eine Vogelscheuche.

Da begann die Queen zu lachen. Sie lachte so laut und herzerfrischend und ansteckend, dass ich mit einfiel, obwohl mir Froschi in VIPs Hand leidtat. Und da standen wir und lachten und lachten. Ich glaube, die Queen hatte sogar Tränen in den Augen. Auch Mister Harris verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. Dennoch konnte man ihm an seinen roten Wangen ansehen, wie unangenehm ihm dieser Auftritt war. Wahrscheinlich hatte er die Queen noch nie zuvor live gesehen und sie ganz gewiss nicht ihn. Und jetzt war Mister Harris beim ersten Aufeinandertreffen halb unter einer zwölfjährigen deutschen Sprachschülerin und ihrer Kleidung begraben gewesen.

VIP übrigens verzog keine Miene, legte Froschi in den Koffer zurück und klappte ihn zu, als sei nichts gewesen. Dann klopfte er sich den Staub vom Anzug und verbeugte sich untertänigst, worauf die Queen noch mehr lachte. „Das ist ja eine schöne Bescherung!“, sagte sie, zumindest glaube ich das. Was sollte man auch sonst zu einer solchen Situation sagen. Und dann an VIP gewandt: „Können Sie mir das alles erklären?“ …

10 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Ferien bei den Royals“

  1. Brava! Sprachferien mit Benimm-Kurs, der nicht als Gängelei, sondern echtes Abenteuer erlebt wird. Haben deine Kinder zu der originellen Idee beigetragen? Das werden aufregende Wochen bzw. spannendes Lesefutter. 🤩👍

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    1. Das Buch ist leider noch nicht fertig. Rund 120 Seiten habe ich schon geschrieben und dabei mehr als die Hälfte der Dinge erzählt, die die Protagonistin während ihrer Zeit in England erlebt. Ich komme also gut voran. Und wer weiß: Vielleicht traue ich mich ja, mich mit dieser Geschichte an Verlage zu wenden. 😉
      Herzlichen Dank jedenfalls für dein liebes Feedback! 🥰

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