oder: Heal the world
Es gibt Momente in meinem Leben, in denen es mir wahnsinnig schwerfällt, etwas zu schreiben. Das hat nie damit zu tun, dass ich nicht wüsste, worüber. Mir gehen Themen nicht einfach aus und ich habe auch erfreulicherweise bisher keine Schreibblockaden oder die sprichwörtliche Angst vor dem weißen Blatt erlebt. Meistens geistert mir sehr vieles durch den Kopf und oft denke ich, dass es erzählenswert ist. Aber manchmal erscheint mir das alles so belanglos. Nicht an sich. Aber im Vergleich zum Weltgeschehen. Ich kann das einfach nicht: über unseren Urlaub in Rumänien schreiben oder über mein Sabbatical, wenn so viel Schreckliches passiert, dass ich mich aus dem Wohnzimmer schleiche, wenn jemand die Fernsehnachrichten einschaltet. Weil ich das alles nicht mehr sehen und hören kann: gestandene Männer, die um ihre Töchter weinen, Dörfer, die nach Erdbeben in Schutt und Asche liegen, Menschen, die über den Haufen geschossen werden oder von Terroristen verschleppt, Journalisten, die mit zitternder Hand aus Krisengebieten berichten, Brände, Überschwemmungen, abgemagerte Eisbären.
Ich versuche, mich wacker zu halten. Mich davon nicht unterkriegen zu lassen. Dem Schrecken etwas entgegenzusetzen. Manchmal fällt mir aber nicht ein, was. Dann macht sich die Hoffnungslosigkeit wie ein Lauffeuer in mir breit und ich kann nichts dagegen tun. Meine Gedanken kehren wieder und wieder zu Gräueltaten zurück, von denen ich in den Nachrichten gehört habe. Ich kann den Fernseher ausschalten, aber nicht meinen Kopf. Ich weiß, dass das, was ich aus der Ferne miterlebe, für sehr viele Menschen extrem laut und unglaublich nah ist, dass sie Schüsse hören, Raketeneinschläge und Schreie. Dass es deren Realität ist. Eine aufgezwungene.
Ich sehe vollkommen hilflos dabei zu, wie Gewalt Gegengewalt erzeugt und der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Es übertrifft immer wieder alles, was ich mir bis zu einem bestimmten Moment an Grausamkeiten hätte vorstellen können. Und es erschüttert mich jedes Mal wieder bis ins Mark. Die Terroranschläge auf das World Trade Center zum Beispiel. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas je passieren könnte. Der Tag hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, wahrscheinlich für alle Zeiten. Ich sehe mich, wie ich an diesem Tag nachmittags meine Eltern besuche. Ich laufe die Stufen im Treppenhaus hoch in den ersten Stock über rostrote Fußläufer. Meine Mutter und mein Vater stehen an der Wohnungstür. Ich weiß noch nichts von den Anschlägen, sie merken es mir sofort an. Und ich merke ihnen sofort an, dass etwas passiert ist. Wir gehen in die Wohnung, ich sehe die Bilder, die an diesem Tag und den folgenden immer und immer wieder gezeigt werden, aber dennoch unwirklich bleiben, vielleicht, weil ein bestimmtes Ausmaß an Schrecken einfach nicht zu fassen ist, nie zu fassen sein wird.
So wie jetzt. Die Gräueltaten, von denen berichtet wird, machen mich fassungslos. Über Einzelheiten kann und will ich hier nicht schreiben, weil Baby Boss den Blog liest, und all das nicht erfahren soll. Aber vermutlich wissen die meisten, was ich meine, oder können sich zumindest denken, worauf ich hinauswill. Ich frage mich, wieso auch immer wieder die sogenannten Zivilisten mit Gewalt überzogen werden: Söhne und Töchter, Mütter und Väter, Großeltern, Tanten und Onkel. Menschen, die in Beziehungen zu anderen stehen. Menschen, deren gewaltsamer Tod das Leben der Angehörigen und Freunde von heute auf morgen aus dem Ruder laufen lässt. Menschen, die ein Leben führen wollen in Frieden und Freiheit. Die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Es ist unerträglich. Mehr kann ich darüber nicht schreiben.
Aber worüber dann? Was wirkt nicht völlig belanglos neben all dem Leid?
Vielleicht kann ich darüber schreiben, wie es sich anfühlt, wenn die Menschen aufeinander achtgeben. Das ist es, was mich eine Weile trägt, für einen Moment glücklich macht. Eine kleine Episode aus dem Alltag, vielleicht vollkommen belanglos oder genau das Gegenteil davon. Ich glaube daran, dass viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, das Gesicht der Welt verändern können. Kindness can change the world.
Ich sitze in einer Arztpraxis, nicht im Wartezimmer, sondern direkt in dem Bereich, wo sich das Labor befindet. Dort stehen zwei Stühle, neben mir hat eine junge Frau mit indischen Wurzeln Platz genommen. Sie begleitet ihre Mutter und übersetzt für sie. Ihre Mutter klagt über Schmerzen im Rücken, in der Brust, sie strahlen in den Arm aus. Selbst medizinische Laien wissen, was das bedeuten kann. Die Frau wird sofort vorgezogen, Blutdruckmessung, Blutabnahme, gleich ein EKG.
Ich habe meine Jacke auf dem Arm, meinen Regenschirm in der Hand. Ich bin fahrig, wie fast immer beim Arzt. Sitze wie auf Kohlen. Der Notfall macht mich noch nervöser. Als ich etwas in meine Handtasche stecke, lege ich den Griff des Schirms auf meinem Schoß ab. Kurz darauf fällt der Schirm mit einem lauten Knall um. Die junge Frau hebt ihn für mich auf und sagt freundlich: „Im Wartezimmer unter der Garderobe kann man Schirme abstellen.“ Ich hatte es noch nicht bis dorthin geschafft, weil ich direkt zum Labor geschickt wurde. Ich lächle. Und sage: „Meine Handtasche lasse ich kurz hier liegen.“ „Ich passe darauf auf“, sagt die junge Frau. Dann bringe ich meine Jacke und den Schirm ins Wartezimmer, komme zurück, wir lächeln uns wieder an.
Ich weiß, dass sich das alles vielleicht „klein“ anhört, geradezu nichtig. Dennoch hat mir dieser Moment etwas gezeigt: dass es Menschen gibt, die zwar allen Grund dazu hätten, nur mit sich und den eigenen Problemen beschäftigt zu sein, die aber dennoch eine nette Geste und ein paar hilfreiche Worte für andere übrighaben. Die zugewandt sind. Die in Kontakt treten.
Wenig später wird die Mutter der jungen Frau vom Krankenwagen abgeholt. Ich sitze zu dem Zeitpunkt im Wartezimmer. Die junge Frau holt ihre Jacke und ihren Schirm. Als sie das Zimmer verlässt, rufe ich ihr „Alles Gute“ hinterher. „Danke“, sagt sie. Und lächelt.
Liebe Sophie,
du schreibst mir wieder einmal aus der Seele ❤️. Fühl dich gedrückt, Anja
LikeGefällt 1 Person
Liebe Anja, vielen Dank für deine lieben Worte. Fühl dich auch gedrückt, Sophie
LikeLike
Ein sehr guter (und traurig stimmender) Beitrag, der die berechtigte Frage aufwirft, wie man angesichts all der schlimmen Sachen, die auf der Welt passieren, mit der eigenen Ohnmacht umgehen soll. Das ist ein total guter Ansatz, liebe Sophie, wenn du dann nach kleinen Dingen und Gesten im Alltag suchst, die Hoffnung machen. Schreib weiterhin darüber!!
LikeGefällt 1 Person
Danke dir, lieber zeitgeiststories, für deinen Zuspruch. Als Leser der ersten Stunde weißt du ja, dass ich mich in meinen Beiträgen selten mit dem Weltgeschehen befasse und erst recht nicht mit politischen Themen. Ich glaube, ich halte mich für nicht belesen und vielleicht sogar für nicht „klug“ genug, um darüber zu schreiben. Manches macht mir auch so ein schlechtes Gefühl, dass ich mich nicht auch noch schriftlich damit auseinandersetzen möchte. Aber es gibt Zeiten, in denen kein Weg daran vorbei führt. Das Schreiben ist für mich dann eine Art Ventil, durch das wenigstens ein bisschen der Hoffnungslosigkeit entweichen kann.
Herzliche Grüße, Sophie
LikeGefällt 1 Person
Liebe Sophie! Das, was du da ansprichst und das Grauen der Bilder, die wir im Kopf haben, lassen mich sofort an ein Buch denken, das ich vor ein paar Monaten gelesen habe. Daniel Speck beschreibt in »Jaffa Road« den jetzt wieder kriegerisch ausgebrochenen, nie wirklich befriedeten Konflikt in Nahost anhand der Geschichte einer Familie. In der wird genau dieses Drama, dass sich doch alles auf den Schultern der einfachen Menschen auf beiden Seiten abspielt, so deutlich. Als ich den Roman las, dachte ich noch mit Bitterkeit, dass das geschilderte Leid noch gar nicht so lange her ist. Und nun geht es weiter, und es passiert den Familien jetzt, während ich deinen Text lese und hier kommentiere. Da kann man den Glauben an das Gute, an die Menschheit verlieren. Wir halten uns also an solchen kleinen Momenten der gelebten Menschlichkeit, wie du einen beschreibst, fest. Und das kann und soll man dann auch schreiben. Denn so lernen wir, selbst darauf zu achten und lieber einmal mehr zu lächeln oder Hilfe anzubieten als zu wenig. Deshalb danke für deinen Beitrag! Liebe Grüße, Anke
LikeGefällt 1 Person
Liebe Anke, in den vergangenen Tagen war ich im Hinblick auf das Schreiben hin- und hergerissen. Ich wusste einfach nicht, was passend wäre. Während ich an meinem Beitrag gesessen habe, bin ich auf deinem Blog gelandet und habe über die späte Tomate gelesen. Das fand ich wirklich so herzerwärmend, es hat mich auf angenehme Weise zerstreut und mich zum Lächeln gebracht. Und da habe ich gedacht: Auch wenn es manchmal schwerfällt und man um die richtigen Worte ringt – man muss es einfach machen: schreiben! Weil dieses Teilen von kleinen Momenten nicht nur für einen selbst wohltuend ist, sondern im besten Fall auch für andere, zum Beispiel zum Nachdenken anregt oder auch einfach mal auf andere Gedanken bringt. 🙂
Das Buch klingt sehr gut, ich mag es, wenn Geschichte oder Gegenwart in Romane verpackt ist, das ist für mich allemal besser lesbar als ein Sachbuch.
Einen wunderschönen Sonntag und liebe Grüße, Sophie
LikeGefällt 1 Person
Liebe Sophie, du sprichst mir aus dem Herzen!
Ich habe immer öfter ein ungutes Gefühl, wenn ich die Nachrichten einschalte.
Alle Übel, die bei der Öffnung „Der Büchse der Pandora“ entwichen sind, scheinen sich vereint zu haben, um uns zu ängstigen.
Dein Blog zeigt aber auch, was zu tun ist, damit die „Hoffnung“, die ja bekanntlich in der Büchse verblieben ist, wirksam wird.
Der freundliche Umgang mit anderen Menschen, die uns im Alltag begegnen, ist so eine Möglichkeit; ich habe es selbst nach dem Lesen von deinem Blog ausprobiert und so manches Lächeln im Gesicht meines Gegenübers ausgelöst.
Es klappt wirklich und ich habe mich dabei wohl gefühlt.
Freundliches Bloggen wünscht mit herzlichen Grüßen der „Follower“
LikeGefällt 1 Person
Lieber Follower, herzlichen Dank für deine Nachricht!
Ich freue mich, dass du dich von meinem Beitrag inspiriert gefühlt hast und offenbar ebenso wie ich mit diesem „Kindness-can-change-the-world-Gedanken“ durch die Welt gehst. Ich finde es so wichtig, anderen positives Feedback zu geben. Viel öfter hält man sich leider am Negativen auf, aber wozu eigentlich?
Also, wo wir gerade beim positiven Feedback sind: Ich freue mich SO SEHR, dass ich auf meinem Blog Leser wie dich habe, die von Anfang an dabei sind, die meine Texte gern lesen, die sich davon berühren lassen, die mal nachdenklich gestimmt werden, die sich unterhalten fühlen und die über die Beiträge lachen können. Ich freue mich, dass du zu denen gehörst, die mir Kommentare schreiben, denn das ist für mich ein wichtiges Indiz dafür, dass „da draußen“ auch wirklich jemand mitliest und sich eigene Gedanken zu meinen Texten macht. Das ist ein so schönes Gefühl! Danke dafür!
Herzliche Grüße! Sophie
LikeLike
Deinen Weltschmerz kenne ich nur zu gut! Der tut weh, und auch wenn es wenig tröstlich ist, es gibt Mut zur Hoffnung. Zum Glück sind wir noch nicht abgestumpft. Zum Glück, gibt es Tage, an denen man sich stärker fühlt. Genau dann ist es uns möglich einen Teil von uns hinaus in die Welt zu tragen… herzlichst, Sovely
LikeGefällt 1 Person
Vielen Dank für deine lieben Worte! Es tut gut zu hören, mit diesen Gefühlen und Gedanken nicht allein zu sein. Manchmal zieht mich die Weltlage sehr runter. 😔
Und bitte entschuldige, dass ich den Kommentar erst so spät freigeschaltet habe. Bin gerade im Urlaub und nicht so oft online!
Herzliche Grüße!
LikeGefällt 1 Person
Sophie, das ist alles gut. So ist das Leben. Vor allem sollst Du ja auch im Hier und Jetzt Deinen Urlaub genießen und etwas Abstand vom Weltschmerz bekommen können.
Mir hilft es mich auf die kleinen positiven Details zu konzentrieren und mich über diese zu freuen. Wenn ich mich dann noch kreativ betätige, bekomme ich den Weltschmerz ganz gut ausgeblendet.
Weltschmerz ist nicht gut, wenn er uns zu sehr runter zieht und uns lähmt. Sende Dir herzliche Grüße und weiterhin wunderschöne Momente für Dich! Herzlichst, Sovely
LikeGefällt 1 Person