Zum ersten Mal: Kurzgeschichte

oder: Niko, Teil 1

„Soll ich dir helfen?“, fragte er.

„Wie bitte?“

„Beim Eincremen. Brauchst du Hilfe? Mit deinem Rücken?“

Ach so, dachte ich und musste lächeln. Ja, eigentlich schon. Eigentlich brauchte ich Hilfe. Mit meinem Rücken.

Er saß nicht weit von mir entfernt auf einem dunkelblauen dünnen Handtuch. Eines von denen, die schnell nass werden, aber auch schnell wieder trocknen. Seines war trocken, er war noch nicht schwimmen gewesen. Nicht, dass ich ihn beobachtet hätte. Und wenn, dann nur ein bisschen.

Er saß auf seinem Handtuch im Gras, und ich saß auf meinem Handtuch im Gras, wir waren beide allein im Freibad. Viel mehr hatten wir nicht gemeinsam.

Ich kannte ihn vom Sehen. Ich mochte ihn vom Sehen. Er arbeitete in einem Café, in dem ich mir ein-, zweimal pro Woche einen kleinen entkoffeinierten Caffè Latte holte, allein oder mit einer Freundin.

Ihn sah ich aber nur ein-, zweimal im Monat. Fühlte sich das nach einem „Leider“ an? Seine Arbeitszeiten wichen von meinen Kaffeezeiten ab. Vielleicht schlief er morgens noch? Warum sah ich ihn jetzt vor mir, wie er in seinem Bett lag, mit verstrubbelten Haaren? Ich stellte mir vor, dass er Bettwäsche von IKEA hätte. Einfarbig. Hellgrau.

Und wo war er, wenn ich am Vormittag kam? War er dann in einer Vorlesung an der Uni? Studierte er überhaupt?  

Er war jünger, als ich gedacht hatte. Eine Freundin hatte es mir erzählt. Anfang, Mitte zwanzig. Mehr als zwei Jahrzehnte jünger als ich.

„Also, was ist?“, fragte er und lächelte jetzt auch, vielleicht sogar ein bisschen frech. Vielleicht sogar herausfordernd.

Vielleicht hätte ich „nein“ gesagt, wenn er nicht auf diese Art gelächelt hätte. Aber ich sagte „ja“, oder anders gesagt: Mein Mund tat es. Mein Verstand hätte dem nie zugestimmt: „Also ehrlich: Du kannst dir doch nicht von einem Typen, der halb so alt ist wie du und den du gar nicht kennst, den Rücken eincremen lassen. Spinnst du?“

Als er aufstand, konnte ich nicht anders, als kurz den Atem anzuhalten. Hatte ich wirklich „ja“ gesagt? Was für eine absurde Idee! Oder etwa nicht?

Er kam mit langsamen Schritten zu mir herüber, auf mich zu. Sehr männlich dafür, dass er halb so alt war wie ich. Er sah nicht so aus, als ob er Angst vor seiner eigenen Courage hätte. So wie ich.

Das Eincremen, das hatte er mir als Freundschaftsdienst angeboten, mehr nicht. Obwohl wir gar nicht befreundet waren. Machte er bestimmt ständig: anderen Frauen im Freibad den Rücken eincremen. War total nett von ihm. Umsichtig.

Seine Badehose passte zu seinem Handtuch, sie war auch dunkelblau. Ich fand, dass sie ihm gut stand und dachte: „Das kann doch nicht dein Ernst sein, dass du dir darüber Gedanken machst!“ Und: „Schau doch da jetzt nicht so hin! Schau weiter nach oben. Noch weiter nach oben. Am besten in sein Gesicht!“

Den Oberkörper hatte ich also übersprungen, irgendwie schade. Mein Blick war dort wirklich nicht lange hängen geblieben, aber in den paar Sekunden hatte ich genug gesehen. Attraktiv, dachte ich, und: Der trainiert. Wahrscheinlich im Fitnessstudio. Aber vielleicht schauen alle Männer mit Mitte 20 so aus. Das konnte ich ja nicht wissen. Ich hatte lange keine mehr oben ohne gesehen. Ich war heute das erste Mal in dieser Saison im Freibad.

Jetzt stand er neben mir. Ich kannte sogar seinen Namen, den hatte mir meine Freundin gesagt. Niko. Er kannte meinen Namen natürlich nicht.

„Darf ich?“, fragte er und zeigte hinter mich auf mein Badehandtuch.

Oh Gott, dachte ich und musste lachen.

„Ja, klar“, sagte ich. „Setz dich.“ Ich könnte ihm ja von dem aufgeschnittenen Apfel anbieten, den ich in einer Tupperschüssel mitgenommen hatte. Irre, wirklich irre, dass er sich jetzt wirklich setzte und fragte: „Gibst du mir die Creme?“

Er lachte auch. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht: Wir fanden uns gut.

Er kniete hinter mir, ich saß mit angewinkelten Beinen vor ihm und versuchte, einen möglichst gerade Rücken zu machen. Er schien innezuhalten, vielleicht verließ ihn der Mut, kurz war ich enttäuscht. Dann hörte ich, wie er die Plastikflasche schüttelte und sie kurz darauf öffnete.

Ich trug einen schwarz-weißen Bikini, der in meinem Nacken geknotet war. Meine Haare hatte ich zu einem achtlosen Dutt aufgetürmt, für den ich zehn Minuten vor dem Spiegel gestanden hatte. Es war also nur ein sogenannter achtloser Dutt. Deswegen hatte ich auf dem Weg zum Freibad keinen Fahrradhelm tragen können.

Ich war froh, dass ich mich fürs Freibad geschminkt hatte. Nur die Augen, mit Kajalstift und Wimperntusche. Wimperntusche sagte heute niemand mehr, das hieß jetzt Mascara, und ich war froh, dass er keine Gedanken lesen konnte. Nicht nur, weil ich über den Begriff Wimperntusche nachgedacht hatte.

Plötzlich spürte ich seine Hände auf meinen Schultern und wieder stockte mir der Atem. Wer hatte nochmal „ja“ gesagt? Ich schüttelte den Kopf.

„Alles in Ordnung?“, fragte Niko.

„Ja, alles bestens“, sagte ich und musste lächeln. Nicht amüsiert, sondern ungläubig. Es war doch vollkommen absurd, dass Niko jetzt hinter mir auf meinem Badehandtuch saß, um mir den Rücken einzucremen.

Er verteilte die Sonnencreme, ließ seine Hände sanft über meinen oberen Rücken gleiten, meine Schulterblätter, meinen Nacken. Seine Fingerspitzen berührten meine Schlüsselbeine.

Ich kannte ihn bestimmt schon seit einem Jahr. Wobei, was heißt „kennen“? Vor einem Jahr hatte ich ihn das erste Mal im Café gesehen. Seitdem immer wieder. Am Anfang schien er keine Notiz von mir zu nehmen, ich aber von ihm. Irgendwann fiel ich ihm dann doch auf. Wenn wir uns sahen, lächelten wir uns zu. Er wusste, wie ich meinen Kaffee trank. Manchmal wechselten wir ein paar Worte miteinander. Belangloses Zeug.

Wenn ich ins Café kam und er hinter der Theke stand, war es immer eine Überraschung für mich. Ich kannte seine Arbeitszeiten nicht und hatte mir nicht die Mühe gemacht, eine Regelmäßigkeit zu erkennen. Wenn ich ihn sah, dachte ich nie an seinen Namen. Ich dachte nicht „Da ist Niko“, sondern immer nur „Da ist er“.

Das hatte sich in dem Moment geändert, als Niko mich das erste Mal berührt hatte. Eben gerade. Meinen Rücken. Beim Eincremen. Mit Sonnenmilch. Freundschaftsdienst. Umsichtig.

Niko war bestimmt einen Kopf größer als ich, sportlich, hatte kurze dunkle Haare, grüne Augen. Wieso wusste ich eigentlich so genau, wie er aussah? … … …

PS Hier entlang zu Teil 2.

2 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Kurzgeschichte“

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