oder: Niko, Teil 2
„Den unteren Rücken auch?“, fragte Niko.
Ja, bitte! Nein, auf gar keinen Fall!
„Nein, danke“, stammelte ich, „das kriege ich schon allein hin.“
„Okay“, sagte er und ich merkte, wie er hinter mir aufstand.
Ich drehte mich um.
„Danke“, sagte ich.
„Immer wieder gern“, sagte er und lächelte. Ich begann ihm zu glauben. Ich war so nervös, dass ich zitterte. Hoffentlich sah er das nicht. Vielleicht sollte ich ihm jetzt ein Stück Apfel anbieten. Dann erinnerte mich mein Verstand daran, dass eine Tupperschüssel alles verderben könnte. Seit wann war mein Verstand auf meiner Seite?
Niko machte ein paar Schritte auf dem kurzgeschnittenen Rasen, eigentlich war es fast nur Klee. Ich schaute mir seinen Rücken an, der muskulös und braungebrannt war. Plötzlich drehte sich Niko abrupt zu mir um.
„Was dagegen, wenn ich mich zu dir lege?“
Nein, äh, doch. Oder doch nicht?
„Nein“, sagte ich. „Mach nur.“
„Mach nur?“
„Gern“, korrigierte ich mich.
Niko holte sein dunkelblaues Badehandtuch, seinen Rucksack und seine Turnschuhe. Er breitete sein Handtuch ordentlich neben meinem aus und setzte sich, wir schauten uns nicht an. Sein Blick ging in Richtung des Nichtschwimmerbeckens, meiner auch. Seine Präsenz machte mich schwindelig und für einen Moment wünschte ich, dass ich ihn gar nicht erst getroffen hätte.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er.
„Hannah“, sagte ich.
„Hannah?“, wiederholte er. „Das habe ich mir gedacht.“
Ich musste lachen. Vielleicht schätzte ich die Lage vollkommen falsch ein, aber ich hatte den Eindruck, als würde er mit mir flirten. Abwegig. Absurd. Lächerlich.
Ich merkte, wie er mir einen Blick von der Seite zuwarf.
„Du bist gar nicht tätowiert“, stellte er fest.
„Du auch nicht“, sagte ich, viel zu schnell, um jetzt noch Desinteresse vorzutäuschen. Ich hatte ihn mir ebenso genau angeschaut wie er mich.
Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu.
„Rauchst du?“, fragte Niko.
„Nee, du?“
„Nee.“
„Dann haben wir eine Menge gemeinsam“, sagte Niko und sah mich auf eine Art an, die ich nicht deuten konnte.
„Nur, dass ich ungefähr doppelt so alt bin wie du“, sagte ich. Er zuckte kurz zusammen und musterte mich mit strengem Blick. Jetzt habe ich es verdorben, dachte ich. Ich habe es ganz ohne Tupperdose geschafft.
Aber er sagte: „Ist mir gar nicht aufgefallen.“
Dann streckte er seine Hand nach mir aus. Oh Gott, was kommt jetzt, dachte ich.
„Du hast da noch Creme“, sagte er und strich über mein Schlüsselbein. Er schaute mich an, ich schaute an ihm vorbei. Seine Hand wanderte meinen Hals hinauf bis zu meinem Gesicht, zu meiner Wange. Unsere Blicke trafen sich wieder.
„Du“, sagte ich. „Ich muss mal eben zur Toilette.“
Ich stand abrupt auf, Niko ließ seine Hand auf sein schnell trocknendes Badehandtuch sinken.
„Bin gleich zurück“, sagte ich im Weggehen.
„Gut“, rief er mir hinterher.
Gut! Von wegen! Gar nichts war gut. Oder doch?
Ich wusste, dass er mir hinterherschaute, spürte seine Blicke in meinem Nacken, merkte, wie sie von dort aus nach unten wanderten bis zu meinem Hintern. Der sah aus wie der einer Mittvierzigerin, daran konnte ich so schnell nichts ändern.
Ich hasste die Toilette im Freibad und ich hatte auch nicht vor, sie zu benutzen. Ich musste nur einfach kurz aus der Schusslinie. Damit ich nicht durchdrehte.
Ich schaute mich im Spiegel an, wusch meine Hände.
Als ich wieder herauskam, stand er vor der Tür.
„Was machst du denn hier?“
„Ich habe auf dich gewartet.“
„Wieso?“, fragte ich und zog meine Augenbrauen zusammen.
Er schaute mir einen Moment zu lange ins Gesicht, dann auf den Boden, graue Steine zu einem Muster verlegt.
„Ich dachte …“, fing er an.
„Ja?“, fragte ich.
Er schaute wieder zu mir und grinste. „Ich dachte, wir könnten uns küssen.“
Okay, das habe ich gerade nicht richtig verstanden. Oder mir eingebildet. Vielleicht bildete ich mir das alles ein. Das Freibad, ihn, mich. Was ich mir nicht einbildete, war, dass meine Beine anfingen zu zittern. Das taten sie wirklich, ich spürte es. Am liebsten hätte ich mich auf die grauen Steine am Boden gesetzt.
„Ich …“, sagte ich und kam nicht weiter. Ich hätte „Spinnst du?“ fragen können oder „Wieso sollten wir uns küssen?“. Ich hätte sagen können: „Gute Idee.“
Ich musste wieder lächeln und Niko lächelte auch, und wir standen voreinander vor der Freibadtoilette, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht: Wir fanden uns gut.
Seine grünen Augen blitzten und dann nahm er meine Hand, die an meiner Seite baumelte, neben meinen immer noch zitternden Beinen hing, die er nicht kommentierte, aber wahrscheinlich bemerkte.
Dann fragte er: „Heute nicht?“
„Was meinst du damit?“
„Das Küssen“, antwortete er. „Heute küssen wir uns nicht, nehme ich an.“
Frech, herausfordernd. Ich konnte es nicht fassen.
„Nein, heute küssen wir uns nicht“, sagte ich. Und dann: „Lass uns zurückgehen, ja?“
Und das taten wir, Hand in Hand. Es war das Verrückteste, was ich seit 25 Jahren getan hatte. Abwegig. Absurd. Lächerlich.
Wir setzten uns nebeneinander auf unsere Handtücher und redeten nicht viel. Niko hielt meine Hand in seiner.
Ich zog sie erst weg, als ich ihn kommen sah. Ruckartig. Niko schaute mich überrascht an, dann folgte er meinem Blick und bemerkte ihn auch.
Er schlenderte in meine Richtung. In unsere Richtung. In Shorts und Flipflops. Er trug eine Sonnenbrille, die er sich in unserem letzten gemeinsamen Urlaub gekauft hatte.
Ich hatte nicht mit ihm gerechnet. Natürlich nicht, sonst säße ich jetzt nicht hier. Also: Ich säße schon hier, aber nicht neben einem anderen Mann. Erst recht nicht neben einem, der halb so alt war wie ich.
Sollte das eine Überraschung sein? Ein Entgegenkommen, weil ich mich beschwert hatte, dass wir so wenig zusammen unternahmen? Hatte er sich freigenommen?
Mir wurde heiß und kalt.
Er hob schon von weitem die Hand zum Gruß. Ich hob meine, die eben noch fremdgegangen war.
„Wer ist das?“, fragte Niko.
„Das ist mein Mann.“
PS Alexa Hennig von Lange hat in ihrem Seminar davon gesprochen, dass es beim Schreiben unter anderem darum geht, eigenes Erleben in literarischer Form umzusetzen. Aber nicht eins zu eins, sondern fiktionalisiert. Anders ausgedrückt: Die Basis ist Selbsterlebtes, darauf wird die Fiktion gesetzt. Ich dachte, ich schreibe das jetzt einfach mal. Die Hauptperson meiner Kurzgeschichte heißt Hannah. Ich heiße Sophie. 😉
PPS Teil 2 vor Teil 1 gelesen? Macht nichts. Hier entlang zu Teil 1.
Oha! Die Geschichte geht fulminant weiter – insbesondere die frech-charmante Art, wie die Aufforderung zum Küssen vonstatten geht, gefällt mir!
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Mir gefällt das auch!
Es klingt vielleicht komisch, aber mich hat diese Aussage von Niko auch ein bisschen überrascht. Das ist für mich eines der vielen schönen Dinge beim Schreiben: dass die Figuren ein gewisses Eigenleben entwickeln und die Geschichte eine eigene Dynamik. Es funktioniert nicht, dass man jemandem einfach etwas in den Mund legt. Ergibt das Sinn?
Angefangen hat eigentlich alles nur damit, dass ich eine Szene/Kurzgeschichte schreiben wollte, die im Freibad spielt. Es sollte eine kleine Love Story werden. Mehr wusste ich am Anfang nicht. Und dann kam plötzlich eins zum anderen und ich musste im Grunde genommen alles nur noch aufschreiben. Die Dialoge sind dabei eigentlich komplett aus der Situation, also beim Schreiben, entstanden. Aber ich habe es mir nicht ausgedacht, die Figuren haben es einfach „gesagt“.
Und danke für dein Feedback! Gerade wenn ich „schriftstellerisch“ etwas Neues wage, bin ich doch sehr nervös vor (und nach) der Veröffentlichung …
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Ich habe gestern den zweiten Teil der Kurzgeschichte gelesen und fand ihn echt stark! Heute habe ich dann auch den ersten Teil gelesen und der komplettiert den guten Eindruck! Allerdings hätte meiner Meinung nach auch der zweite Teil für sich stehen können. Das Genre „Kurzgeschichte“ ist ja ein recht anspruchsvolles, da man nicht viel Raum hat um eine Begebenheit, Situation oder eine Personenkonstellation ausführlich zu beschreiben. Der Leser muß sozusagen mit dem ersten Satz gefesselt werden und es auch bis zum Schluß bleiben. Ein Meister darin war der große Ernest Hemingway. Präzise Beobachtung und nur die unbedingt nötigen Worte! Vielleicht kommt man manchmal durch eine Eingebung zu der Art von Texten, in denen man sich authentisch ausdrücken kann! Gerne mehr!
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Oha, herzlichen Dank für deine lieben Worte. Vor allem der Begriff „stark“ gefällt mir. 🙂
Ja, ich glaube, bei mir war es so eine Art Eingebung. Oder vielleicht sogar mehrere. Irgendwann setzt sich das alles im Kopf oder vielleicht sogar eher im Bauch (oder im Herzen?) zusammen und dann muss man es eigentlich nur noch aufschreiben.
Ich mag Kurzgeschichten auch sehr gern. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre es ein ganzer Roman auf wenigen Seiten.
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