oder: Meine bösen Geister
Es ist wieder schlimmer geworden, das Rütteln am Fahrradschloss, und ich weiß auch, warum. Es hat damit zu tun, dass meiner ältesten Tochter ihr Fahrrad geklaut wurde. Es war vor einem U-Bahnhof im schönen Friedenau an einen Fahrradständer angeschlossen, an einen so genannten Kreuzberger Bügel. Ich habe diesen Begriff neulich zum ersten Mal gehört. Die Metallstange heißt so, weil sie in den 1980er Jahren erstmals im Berliner Stadtteil Kreuzberg aufgestellt und genutzt wurde. An so einem Bügel war das Fahrrad meiner Tochter befestigt – und dann plötzlich weg. Den Diebstahl bemerkten wir zu allem Überfluss ausgerechnet am Geburtstag meines Mannes, als wir mit den Rädern zum Pizzaessen radeln wollten. Das hat uns die Stimmung total verhagelt. Aber so etwas passiert, in Berlin vermutlich öfter als in jeder anderen deutschen Stadt. Ich weiß es nicht, ich habe mir keine Statistik dazu angeschaut, obwohl es mir ähnlichsehen würde, so etwas zu recherchieren, so wie ich auch den Kreuzberger Bügel gegoogelt habe. Denn in vielem, was ich tue, bin ich sehr gründlich. Man könnte auch sagen: zwanghaft.
Ich kann diese Zwanghaftigkeit nicht abstreifen. Manchmal macht sie mir mein Leben leicht – wenn es auf Genauigkeit, Ordnung und Struktur ankommt. Sie hilft mir zum Beispiel bei meiner Arbeit als Redakteurin. Manchmal macht sie mir das Leben schwer. Zum Beispiel, wenn ich im Hof stehe und mein Fahrrad an die Klopfstange anschließe, am Schloss rüttle, um zu kontrollieren, ob es abgeschlossen ist, mich einige Meter entferne und dann doch nochmal umkehre – umkehren MUSS! –, um erneut zu rütteln. Seit dem Diebstahl ist es übrigens nicht nur ein Fahrradschloss, ich habe aufgerüstet und besitze und benutze jetzt zwei Schlösser von verschiedenen Herstellern. Das Rütteln dauert allein schon deshalb länger. Rütteln bedeutet: ich ziehe das Schloss mit Wucht auseinander. Manchmal zähle ich dabei innerlich bis drei, manchmal auch weiter. (Hoffentlich löst diese Beichte keine Nachahmertaten aus. Man muss nicht rütteln! Nur ICH muss das. Sonst fühle ich mich unwohl.)
Ich glaube, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass das Rütteln eine vergleichsweise harmlose Zwangshandlung ist. Ich habe da schon ganz andere erlebt. Ich hatte Zwänge, die mir viel Zeit gestohlen haben, und solche, die mir fürchterlich auf die Nerven gegangen sind. Es gab welche, die mich fest im Griff hatten, die mir die Haut aufgeweicht oder die mich zu sinnloser Internetrecherche gezwungen haben: Gab es in der Nacht vom 3. Juli auf den 4. Juli 1997 in Berlin-Zehlendorf einen Unfall mit Fahrerflucht, den ich unbemerkt begangen haben könnte?! Das ist kein Scherz und keine Übertreibung.
Ich habe in Büchern vor- und zurückgeblättert, um sicherzustellen, dass ich keine Seite übersprungen habe. Ich habe den Herd kontrolliert, indem ich ihn minutenlang angestarrt und dabei leise „aus, aus, aus“ gemurmelt habe, und die Wohnungstür immer wieder auf- und zugeschlossen und dabei dem Klackgeräusch gelauscht und dennoch letztendlich am Türknauf gerüttelt. Und vor allem habe ich mir die Hände gewaschen, als ob ich gleich in den OP müsste, nicht ganz bis zu den Ellbogen – wobei: doch, manchmal schon –, oftmals mit verschiedenen Seifen, am Waschbecken, dann mit Duschgel an der Wanne, dann wieder am Waschbecken, und dabei habe ich die Seifenblasengebilde beobachtet, die entstanden sind. Ich habe meinen Mann darum gebeten, mir beim Händewaschen zuzuschauen, „damit ich alles richtig mache“.
In unserer ersten gemeinsamen Wohnung stand ein Wäschekorb (mit Deckel!) mit unserer getragenen Kleidung (darunter auch Unterwäsche, die mir in getragenem Zustand latent unangenehm ist) direkt neben dem Badezimmer und ich hatte Sorge, ich könnte die Wäsche berühren – von mir unbemerkt und gegen meinen Willen. Oft sollte mein Mann vom Wohnzimmer aus meinen Weg aus dem Bad beobachten, damit ich sichergehen konnte, dass das nicht der Fall war.
Während meiner ersten Schwangerschaft habe ich von verpacktem Scheibenkäse ohne Rinde immer den äußersten Rand abgeschnitten, um sicherzugehen, dass – ja, was eigentlich? Der Sinn meiner Zwangshandlungen hat sich mir nicht immer erschlossen. Die abgeschnittenen Ränder hat übrigens mein Mann gegessen. (Daran kann man merken, was er für ein Guter ist.)
Viel schlimmer noch als die Zwangshandlungen, waren aber die Zwangsgedanken. Zum Fürchten. Wirklich. Vielleicht schreibe ich ein anderes Mal darüber. Vielleicht auch nicht.
Allen Zwängen gemeinsam war, dass ich sie in meinem tiefsten Innern als unsinnig empfunden habe – sie aber dennoch nicht abstellen konnte.
Nüchtern betrachtet könnte für mich alles zur Zwangshandlung werden und jeder unangenehme Gedanke zum Zwangsgedanken. Und so kam es, dass sich im Laufe meines Lebens die verschiedensten Zwangshandlungen und -gedanken die sterilisierte Klinke in die mehrfach gewaschene Hand gegeben haben. Das klingt lustiger als es ist. Lustig ist es nämlich nicht. Die Zwangsstörung hat mir über weite Strecken meines Lebens enge Grenzen diktiert und dass sie jetzt nicht mehr ganz so eng sind, macht mich dankbar und demütig. Wieso sich die Symptomatik so gebessert hat, weiß ich ehrlich gesagt nicht. (Es war jedenfalls nicht die Psychoanalyse, die ich jahrelang gemacht habe.)
Was zurzeit unter anderem von meinen Zwängen übrig ist: Ich ekle mich latent davor, zum Müll zu gehen und tue es deshalb nie. Wenn ich unterwegs bin, muss ich immer mal wieder schauen, ob alles noch in meiner Handtasche steckt: Handy, Portemonnaie, Schlüssel. Ich bin nicht gern diejenige, die schaut, ob der Kaninchenstall korrekt verschlossen ist. Wenn ich Stress habe – auch positiven –, wasche ich mir manchmal mehrmals hintereinander die Hände. Und während ich einen Blogeintrag erstelle, lese ich ihn bis zu zehnmal Korrektur und letztendlich bitte ich meinen Mann darum, sich den Text auch noch anzuschauen.
Was mir hilft, ist, wenn mein Gegenüber von meiner Zwangsstörung weiß und ich nicht auch noch Energie aufbringen muss, sie zu verbergen. Vor einiger Zeit zum Beispiel war ich mit meiner besten Freundin Goldlöckchen im Berliner Tiergarten spazieren und musste eine Brötchentüte wegwerfen: in so einen öffentlichen Mülleimer mit Abdeckung, damit sich die Vögel nicht daran bedienen können. Man muss den Müll durch einen kleinen Spalt schieben, der Eimer an sich ist irgendwie eklig und ich passe immer höllisch auf, nicht aus Versehen mit meiner Hand dagegen zu stoßen. Als ich die Tüte entsorgt hatte, sagte meine Freundin wie selbstverständlich: „Du hast ihn nicht berührt.“ Und meinte damit den Mülleimer. Vielleicht sind es auch solche Situationen, das liebevolle Verständnis von Menschen, die mir nahestehen, die dazu beigetragen haben, dass ich mich in meiner Haut wohler fühle – dem Zwang zum Trotz.