oder: New Rules
Unsere Töchter, mein Mann und ich spielen gern Gesellschaftsspiele. Das Wort klingt ein bisschen angestaubt und vielleicht sogar spießig, aber davon lassen wir uns nicht beirren. Mein Mann spielt am liebsten „Scotland Yard“, damit steht er leider allein dar. Er scheint ganz begeistert davon zu sein, uns im Verborgenen zu entwischen, ich hingegen war noch nie Mr. X, weil meine Nerven dafür nicht stark genug sind. Das Spiel versetzt mich total in Stress. Meine größte Tochter wollte sich wie gewohnt nicht auf ein Lieblingsspiel festlegen, sie mag es nicht, Entscheidungen zu treffen. Meine mittlere Tochter spielt gern „Werwolf“, meine Kleinste mag „Wer war’s?“.
Ich spiele gern „Tiny Towns“ und „Pictures“ und „Cluedo“, letzteres vielleicht, weil ich es schon aus meiner Kindheit kenne (Stichwort: Nostalgie).
Vor kurzem habe ich angefangen, so eine Art Telespiel zu spielen, das geht auch allein und deshalb kann ich mich damit beschäftigen, während die anderen Hausaufgaben machen, Hörspiel hören oder schon oder noch im Bett liegen. Es heißt „Liken und gelikt werden“ und wird auf Instagram angeboten. Ich glaube, das ist so eine Gaming-Plattform. Ich habe mich dort angemeldet und meine Spielfigur aufgestellt. Oder ist es ein Avatar?
Ich bin durch Empfehlungen auf das Spiel aufmerksam geworden, einige Stimmen haben behauptet, „Liken und gelikt werden“ könne im besten Fall die Bekanntheit dieses Blogs steigern. Das hat mich gekriegt. (Früher hatte ich ein Telespiel, bei dem Hello Kitty ihren Schulbus erwischen musste und ihre Freunde versucht haben, sie davon abzuhalten. Man musste Hello Kitty um sie herummanövrieren. Irgendwie hatte ich mal wieder Lust auf so etwas.)
Zuerst dachte ich, es würde bei „Liken und gelikt werden“ darum gehen, einfach nur viele schöne Bilder hochzuladen. Da ich gern fotografiere, hatte ich den Eindruck, ich wäre dort genau richtig. Also habe ich angefangen, viele schöne Bilder einzustellen. Mein erstes Foto zeigt eine Rennmaus, die in ihrem knallroten Futternapf sitzt. Ich mag das Motiv, ich mag die rote Farbe, ich mag die niedliche Rennmaus. Ich fotografiere gern, halte aber nicht einfach nur so drauf, sondern mache mir auch Gedanken um Motive, Farben und Komposition. Das habe ich von meinem Vater, der seine Kamera viel mit sich herumgeschleppt hat und Spezialist für Stillleben war. Jetzt fotografiert er nicht mehr, sondern fährt lieber Rad.
Recht schnell habe ich Folgendes verstanden: Bei „Liken und gelikt werden“ geht es nicht nur darum, Bilder zu zeigen. Wichtig ist wohl, dass die Spieler versuchen, ihre Fotos mit den „richtigen“ Hashtags zu versehen, die sollen angeblich wichtiger sein als das Foto selbst. Über die Hashtags finden andere Spieler zu den eigenen Bildern und können sie liken und/oder kommentieren – oder eben auch nicht. Fürs Liken muss man nur auf ein Herz-Symbol klicken, das geht in einer Sekunde. Bei der Rennmaus zum Beispiel hat das Gelikt-Werden geklappt, obwohl ich nur ein Hashtag angegeben hatte, nämlich Rennmaus und nicht etwa noch pelziges Gold, Haustiere, Fellfreunde oder furry friends.
Ich fotografiere gern Landschaften, Tiere und Kuchen und manchmal auch schwarz-weiß, zum Beispiel Details. Nach kurzer Zeit habe ich festgestellt, dass es die meisten Likes für unsere Kaninchen gibt, selbst wenn ich nur ganz wenige Hashtags setze. Kurzzeitig habe ich deshalb überlegt, ob nicht Jimmy und Hermine einen eigenen Account führen sollten, vielleicht auch einen eigenen Blog schreiben. Ich erwähnte ja bereits, dass meine Töchter die Gedanken der Kaninchen lesen und in Worte fassen können. Wahrscheinlich würden sich Jimmy und Hermine innerhalb kürzester Zeit zu wichtigen Petfluencern mausern (ja, das Wort gibt es wirklich!). Im Internet habe ich gelesen, dass es dafür hilfreich ist, die Tiere mit unterschiedlichen Requisiten und in unterschiedlichen Kulissen zu fotografieren. Ich stelle mir das auch irgendwie niedlich vor, frage mich aber dennoch, ob es artgerecht ist, wenn ich die beiden zum Beispiel in einen Spielzeugzug setze und damit herumfahre. Ich habe den Gedanken also für den Moment verworfen und versuche es erst einmal selbst, zum Beispiel mit Fotos von Bienenstich-Muffins und der Ostsee.
Ziel des Spiels ist es, möglichst viele Likes einzusammeln. Das klingt ganz einfach, aber ich gebe zu, dass ich die Spielregeln dennoch nicht richtig verstanden habe. Es scheint da nämlich zusätzlich ein paar Ungeschriebene zu geben, die mir Kopfzerbrechen bereiten. Denn es geht auch darum, andere zu abonnieren und selbst abonniert zu werden. Hier ist mir noch vieles unklar.
Es gibt zum Beispiel Personen, die mich abonniert haben, obwohl sie mich nicht kennen und auch keines meiner Bilder gelikt haben. Natürlich freut es mich total, wenn mir jemand folgen möchte. Jede/r ist herzlich willkommen! Einige Follower kamen aber ein bisschen wie Kai aus der Kiste, mir war nicht klar, wie sie auf mich gestoßen sind. Eine dieser Personen machte auf mich einen extrem hippen und coolen Eindruck. Um ehrlich zu sein: zu cool, um ausgerechnet mir zu folgen. Es handelte sich um einen jungen französischen Fotografen, der aufwendige Selbstportraits von sich im Portfolio hatte. Er und ich schienen einfach nicht zusammen zu passen. Und das merkte er wohl auch nach zwei Tagen, in denen ich zwar eine Handvoll toller Fotos von ihm mit einem Like versah, ihn aber nicht abonnierte. Er ließ mich fallen wie einen heißen Bienenstich-Muffin.
Mir stellt sich also die Frage: Abonniert mich jemand, weil er meine Fotos gut findet – oder damit ich auf ihn aufmerksam werde und ihn „zurückabonniere“? Und likt mich jemand, weil er meine Bilder wirklich mag – oder nur, um mich zu seinem Account zu locken? Mir scheint, dass es regelrechte Abo-Fallen gibt wie auch sonst im Internet. Wenn ich genauer darüber nachdenke, geht mir das ein bisschen auf die Nerven. Weil ich nämlich nicht weiß, ob meine Bilder echt gelikt werden oder ob das alles Fake ist.
Ich fühle mich jetzt vielleicht so, wie sich mein Vater in unserem gemeinsamen Ostsee-Urlaub gefühlt hat, als er die Spielregeln des im hässlichen Haus befindlichen „Adel verpflichtet“ nicht verstanden hat und deshalb noch während der Vorbereitungen das Handtuch warf. Oder wie meine jüngste Tochter, die als Kleinkind immer dachte, dass der rufende Pfau bei „Wer war’s“ ein weinendes Baby ist.
Vielleicht habe ich nicht auf die Altersangabe geachtet, als ich mich bei Instagram angemeldet habe. Ich war davon ausgegangen, dass da irgendetwas steht wie „Von 9 bis 99“ und „Für 4 bis eine Milliarde Spieler“. Aber die Obergrenze für das Alter ist – glaube ich – 35. Da bin ich ein bisschen drüber.
Nicht, dass jetzt ein Missverständnis entsteht: Ich bin jemand, der sich über Feedback sehr freut, also im weitesten Sinne auch über Likes. Mehr noch: ich bin jemand, der Feedback braucht. Ich glaube, das hat zweierlei Gründe. Erstens bin ich nicht so wahnsinnig von mir selbst überzeugt, ich bin nicht durch und durch selbstsicher. Zweitens hat der Wunsch nach Rückmeldung vielleicht auch mit meiner zwanghaften Natur zu tun. Ich neige dazu, mich rückversichern zu müssen. Diese Verhaltensweise sehe ich nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Töchtern, wenn sie gerade mal wieder in einer zwanghaften Phase stecken wie zurzeit meine Jüngste. Es reicht dann nicht, dass man das eigene Verhalten oder was auch immer für sich selbst einordnet, man braucht dann immer noch „grünes Licht“ von anderer Stelle. Wichtig ist, dass mir jemand in solchen Momenten eine ernstgemeinte und ehrliche Rückmeldung gibt. Dann kann ich mich halbwegs entspannen.
Deshalb ist „Liken und gelikt werden“ vielleicht einfach nicht das richtige Spiel für mich. Ich denke, ich sollte die Bühne lieber Jimmy und Hermine überlassen. Die können ja dann entscheiden, ob sie Reineke_Fuchs_91 folgen oder Knackige-Karotten-Bilder liken. Für mich hingegen heißt es bei Instagram wahrscheinlich sehr bald: #Game over.
PS „Gelikt“ ist übrigens die Schreibweise, die der Duden empfiehlt.