Zum ersten Mal: Sturz vom Rad

oder: Forever young

Es gibt ja diesen Begriff der Sandwich-Generation: Die eigenen Kinder sind noch nicht erwachsen, die Eltern pflegebedürftig und die Sandwich-Generation kümmert sich quasi um beide Toastscheiben, die sie umgeben, also um die Eltern UND die Kinder. Und meistens steht der Sandwich-Belag dabei noch mitten im Berufsleben. Mein Vater hat neulich in Bezug auf mich davon gesprochen, obwohl er und meine Mutter erst knapp über 70 sind und ganz weit davon entfernt, Pflege zu brauchen. (Sind sie das?)

Ich muss dazu mal kurz etwas loswerden: Ich möchte meine Eltern maximal als vitale Senioren wahrnehmen, wobei mir das Wort „Senioren“ eigentlich schon nicht recht ist. Es sind meine Eltern, am besten alterslos oder ewig jung, damit ich sie für immer an meiner Seite weiß. Es irritiert mich, dass sie überhaupt altern und dass man es ihnen auch ansieht und anmerkt, dass mein Vater erst graue, dann weiße Haare bekommen hat, dass meine Mutter nicht mehr so gut hört, mein Vater Schwierigkeiten damit hat, längere Strecken zu gehen, weil er dann Rückenschmerzen bekommt. Ich möchte darüber und über das Danach eigentlich nicht nachdenken.

Ich finde meine Eltern als Großeltern toll, und klar, dafür muss man natürlich irgendwie in einem gewissen Alter sein. Die Aufgabe, diese Rolle steht beiden richtig gut. „Omi und Opi“ heißen sie bei meinen Töchtern. Mein Vater hat zu seinen weißen Haaren und seinem weißen Bart auch noch so eine Elder-Statesman-Art, ein älterer weiser Mann. Er ist wirklich besser geworden mit den Jahren wie ein besonderer Wein, den weder er noch ich trinken würde.

Vor kurzem haben wir – wie vor Corona so oft – einen Sandwich-Urlaub gemacht: mein Mann, unsere Kinder, meine Eltern und ich. Wir waren alle zusammen an der Ostsee, auf dem Darß, wir in einem Top-Ferienhaus in Prerow, quasi fünf Sterne Deluxe, sie in einem eher unterdurchschnittlichen Ferienhaus in Born. Das tat mir total leid, obwohl ich nicht das Geringste dafürkonnte. Wir haben mit Ferienunterkünften eigentlich immer großes Glück, so richtiges Sonntagskindglück. Und meine Eltern eben nicht, an sich nur auf Bornholm, aber da sind alle Ferienhäuser schön, die Skandinavier verstehen etwas von Inneneinrichtung. Wenn man dort an ein hässliches Haus gerät, hat man die falsche Fähre genommen und ist nicht auf Bornholm gelandet.

Unser Ferienhaus in Prerow war wunderschön eingerichtet, gemütlich und wohnlich, alles sauber, tipptopp ausgestattet. Mein Mann hat sich sofort unsterblich in eine Designer-Stehlampe verliebt, die er noch im Urlaub für uns zuhause bestellt hat. Ich wippte Tag für Tag in einem Schaukelstuhl, der zwar nicht vom Designer, aber doch der Beste seiner Art war. Ich fühlte mich wie im Urlaub, wenn ich dort saß und las oder meinen brandneuen Instagram-Account bestückte. Mein Vater nannte ihre Unterkunft schon ab Tag 2 nur noch „das hässliche Haus“, ganz so, als ob man es unter dieser Bezeichnung mieten könnte. „Na, wo macht ihr nächstes Jahr Urlaub?“ „Ach, wir fahren wieder ins ‚hässliche Haus‘.“ „Na, dann, viel Spaß.“

Es gab verschiedene Highlights in diesem Urlaub, eines davon war eine Radtour zum Weststrand am wettermäßig schönsten Tag der Woche. Es war sonnenklar, dass wir fünf fahren würden: mein Mann, unsere Töchter und ich. Und auch meine Mutter würde bestimmt mit dabei sein. Mein Vater war noch unentschlossen, sehr lange hatte er nicht auf einem Fahrrad gesessen, sein eigenes hatte er vor einiger Zeit meinem Bruder geschenkt. Die Verabredung lautete: Er würde auf jeden Fall meine Mutter zu uns nach Prerow fahren und spontan entscheiden, ob er mit von der Partie wäre. Ich schaute an dem Tag aus dem Fenster unseres Luxusbades, meine Mutter stieg aus dem Auto, mein Vater blieb sitzen – und ich dachte schon: Das war es jetzt, das ist die Entscheidung, er kommt noch nicht einmal rein und fährt direkt zurück ins hässliche Haus. Aber er wendete nur und parkte ein.

Wenig später fanden wir uns alle sieben beim Fahrradverleih wieder und auch mein Vater suchte sich ein Fahrrad aus, ein stabiles, weil er früher so ein bisschen ein Lebemann war und immer noch ein bisschen danach aussieht, also vielleicht etwas pummelig ist. Es war ein Damenrad, und ich erwähne es, weil es im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen wird. Ich war sehr froh, dass mein Vater mit dabei sein wollte bei unserem Radausflug zum Weststrand.

Es gibt für mich eigentlich kaum ein schöneres Ausflugsziel auf dem Darß – der Weststrand ist naturbelassen, wild und rau –, aber noch wichtiger ist eigentlich der Weg dorthin durch den Darßer Wald. Unter Bäumen zu sein, macht mich glücklich, vor mich hinzuradeln auch. Die Mädchen sind alt und kräftig genug, die Strecke von rund 10 Kilometern (Hin- und Rückweg) ohne Murren zurückzulegen. Es hätte also alles ganz entspannt sein können, aber ein bisschen schielte ich jetzt (ganz Sandwich-Belag) nicht mehr auf meine Kinder, sondern auf meinen Vater. Wie ging es ihm auf dem Fahrrad nach all den Jahren? So etwas verlernt man ja nicht, oder? War der Weg zu weit? Hatten wir ihm für die erste Fahrt seit Jahren zu viel zugemutet?

Viele Wege führen zum Weststrand, wir wählten einen, den wir schon öfters gefahren waren, der aber stellenweise etwas sandig ist, was wir nicht bedacht hatten. Mein Vater fuhr vor mir und schimpfte über den Weg und brummelte vor sich hin, dass die Fahrt zum Strand angeblich so schön sei, wir aber die allerschlechteste Strecke ausgewählt hätten. An seiner Stelle wäre ich abgestiegen und hätte ein Stück geschoben. Er jedoch zog mit dem Rad in die Mitte des Weges, die besonders sandig war – und fiel wie ein nasser Sack der Länge nach hin, ganz ohne sich aufzufangen oder abzustützen. Einfach hin. Es war meine mittlere Tochter, die ihm sofort aufhalf, nachdem ich sein Fahrrad weggezogen hatte. Ihm war nichts passiert, außer dass er sich „im Dreck gesuhlt“ hatte, wie er schlecht gelaunt sagte. Er habe sein Bein hinten über den Gepäckträger schwingen wollen, um abzusteigen, so wie er es Zeit seines Lebens gewohnt war. Das Damenrad hatte ihn aus dem Konzept gebracht.

Bei diesem Manöver auf sandiger Strecke wäre jeder gestürzt oder zumindest ins Wanken geraten – ganz unabhängig vom Alter. Fahrräder sind dafür einfach nicht gemacht. Dennoch erschien mir mein Vater wie ein Mann über 70, als er bäuchlings auf dem Boden lag. In diesem Moment durchströmten mich ziemlich viele Gefühle gleichzeitig: Mein Vater tat mir wahnsinnig leid, wie er da lag, auch wenn er sich innerhalb kürzester Zeit wieder aufrappelte, ich war besorgt, dass er sich ernstlich verletzt haben könnte, ich hatte ein schlechtes Gewissen, den Weg ausgewählt zu haben, ich habe mich über ihn geärgert, weil er nicht einfach eher abgestiegen war, und der Umstand, dass ich mich über ihn ärgerte, verstärkte mein schlechtes Gewissen. So ist das mit menschlichen Gefühlswelten: Sie sind komplex.

Wir schoben die Räder, bis der sandige Weg ein Ende hatte, und fuhren danach bis zur nächsten Weggabelung gemeinsam. Während mein Mann, unsere Töchter und ich zum Weststrand radelten, kehrten meine Eltern um und verbrachten die Zeit bis zu unserer Rückkehr in unserer Deluxe-Unterkunft. Am Nachmittag konnten wir über den Vorfall alle schon wieder schmunzeln und ich hoffe, dass wir es im nächsten Jahr gemeinsam bis zum Weststrand schaffen. (Ich werde den Weg vorher auskundschaften und die beste Strecke wählen.)

Ich brauche keinen gemeinsamen Urlaub, um festzustellen, dass ich mit meinen Eltern sehr gern Zeit verbringe, ich denke es Woche für Woche. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, sie zu brauchen (obwohl ich schon sehr lange erwachsen bin). Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwann einmal ohne sie zu sein. Ich weiß, dass es dazu kommen wird, dass es unausweichlich ist. Aber bis dahin verschließe ich meine Augen ganz fest davor und tue so, als ob das Leben unendlich und das Schlimmste, was passieren kann, ein Sturz vom Rad in den Darßer Sand wäre.

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