oder: Schweigen im Stuhlkreis
von Alex
Es ist Donnerstag, halb fünf nachmittags. Ich bin aufgeregt, als ich in den Hausflur trete, auf den alten Fahrstuhl zugehe, den Knopf drücke, der Fahrstuhl sich ratternd in Gang setzt. Ich könnte problemlos die beiden Stockwerke bis zur Praxis meiner Therapeutin laufen, aber ich mag den alten Fahrstuhl so sehr. Ich komme mir immer ganz kurz so vor, als sei ich in Paris (wo ich natürlich noch nie war) – wahrscheinlich wegen der Serie. „En Thérapie“.
Ich bin aufgeregt. Denn es ist keine normale Therapiestunde, zu der ich gehe, sondern die erste Stunde Gruppentherapie. Wir, meine Therapeutin und ich, haben beschlossen, dass ich es ausprobiere. Und jetzt bin ich da. Und merke sofort: Alle sind aufgeregt, auch meine Therapeutin. Unsere. Denn wir sind zu viert. Vier Frauen, mit denen ich meine Therapeutin ab jetzt teile. Klingt eifersüchtig, und ich glaube, das ist es auch. Mir hat es gefallen, dass sie all die Jahre, die ich schon zu ihr gehe, immer eine Stunde lang nur für mich da war.
Ok, wer also sind diese anderen Frauen? Und wie soll das überhaupt funktionieren, uns helfen? Kann ich das, was mich beschäftigt, mir Angst macht, schwierig für mich ist, mehreren fremden Menschen erzählen? Ich bin skeptisch und bereue es beinahe, dem Vorschlag der Therapeutin zugestimmt zu haben.
Ich komme in den großen Raum, ein Stuhlkreis, in der Mitte ein großer Blumenstrauß. Wie beim Elternabend, denke ich und setze mich auf einen freien Platz. Gucke mich um, lächle ein bisschen, nicke den anderen Frauen zu. Dann geht es los. Oder geht es nicht. Die Therapeutin ist auch aufgeregt, herzlich, begrüßt uns. Und dann… Stille. Es ist kaum zu ertragen. Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten denke ich: Wie beim Elternabend, die Situation, wenn die Erzieherin fragt, wer den Elternvertreterjob übernimmt und sich keiner meldet. Sieben Mal in den letzten acht Jahren habe ich mich gemeldet. Weil es mir so unangenehm war, dass keiner wollte, die Erzieherin mir leidtat, ich auch wollte, dass der Elternabend irgendwann zu Ende ist.
Und jetzt diese Gruppe, lauter Frauen, die Probleme haben, Ängste, vielleicht Liebeskummer so wie ich. Wir sitzen im Kreis, alle schauen sich an, verlegen, gucken zur Therapeutin, gucken auf den Boden. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und frage in die Runde: „Wie wollen wir uns denn ansprechen? Was meint ihr?“ Die anderen lachen ein bisschen. Sie scheinen erleichtert, dass endlich eine was sagt. Vielleicht haben die anderen sich genauso gefragt, wie man sich anspricht in einer Gruppentherapie, wo man so viel Intimes bespricht, die Therapeutin aber „Frau Müller“ sagt. Zum Beispiel.
Nachdem das geklärt ist, fangen wir an. Eine sehr hübsche Frau stellt sich vor, sie spricht mit ganz leiser Stimme darüber, weswegen sie da ist. Gruppentherapie. Dann bin ich dran, konzentriere mich und versuche, mich kurz zu fassen, aber auch nichts Wichtiges zu vergessen. Dann die nächste, eine Frau, aus der es quasi nur so sprudelt. Sie spricht schnell, laut, lacht zwischendurch. Was will die denn hier, denkt mein Inneres vorwurfsvoll. Dann ist die vierte dran. Sehr ruhig und sachlich berichtet sie von sich.
Wie verschieden wir sind, denke ich und merke, dass ich neugierig werde auf die Geschichten der anderen, auf ihre Persönlichkeiten, auch auf unsere Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ich versuche für mich zu klären, ob ich neugierig bin oder ob es tatsächlich unterstützend sein kann, sich in diesem Stuhlkreis auszutauschen. Gruppentherapie. Zumindest fühlt es sich richtig an, als erste im Stuhlkreis etwas gesagt zu haben. Anders als beim Elternabend.
Es ist sicherlich mutig, sich nicht nur einer Person mit seinen Sorgen und Ängsten anzuvertrauen. Chapeau!
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Das macht neugierig. Wird es Alex im Hinblick auf ihre Situation helfen, die Probleme der anderen zu hören und sich darüber auszutauschen.
Der Text erinnert mich an ein Seminar Gruppendynamik, das genauso begann. Alle im Kreis, Schweigen. Die Seminarleiter wollten uns aus der Reserve locken, aus dieser bequemen „Nun macht mal“-Position. Statt sich etwas vortragen zu lassen, soll man selbst aktiv werden, aus seinem Schneckenhaus raus und schauen, was passiert und wie die anderen reagieren. Fun Fact am Rande: Das Seminar bestätigte explizit meine Ahnung, die ich ohnehin schon hatte, dass mein Job in der Bank nicht der Ort war, wo ich bleiben sollte. Die Bank hatte mir dieses Seminar vorgeschlagen und finanziert.
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