Zum ersten Mal: Der Nachwuchs wird flügge

oder: Sans souci?

Vor gut neun Jahren haben wir ein kleines Grundstück außerhalb von Berlin gepachtet. Es ist eine Art Schrebergarten, nur nicht so spießig, wie der Begriff es vermuten lässt. Eigentlich ist es Bullerbü oder auch Sanssouci, obwohl wir natürlich kein Schloss dort zu stehen haben, sondern nur einen Bungalow aus der Wendezeit, von dem ich befürchtet habe, er könne Asbest enthalten. Aber mein Mann hat erwidert, dass zu dieser Zeit schon lange kein Asbest mehr verbaut wurde. Weil es dort, wo wir unsere Laube haben, so schön ist, glaube ich ihm, und mache mir keine Sorgen mehr darum. Oder zumindest nur noch einmal pro Jahr. Dort draußen bin ich ohnehin nur selten besorgt. Alles fällt von mir ab, wenn wir da sind. Also, ja: Sanssouci passt gut – auch wenn wir im Inneren Kunststoffpaneele an den Wänden haben und nebenan mutmaßlich AfD-Wähler wohnen.

Jahrelang sind wir gemeinsam dorthin gefahren: Mein Mann, meine drei Töchter und ich. Anfangs war Baby Boss nur ein paar Monate alt. Wenn sie nicht gerade schlief, konnte immer nur einer von uns im Garten oder im Haus arbeiten. Später dann hatten mein Mann oder ich sie immer im Blick, weil es einen kleinen Teich gibt, in dem früher sogar Goldfische geschwommen sind. Der Weihnachtsmann hat ein Trampolin für das Grundstück gebracht und ein Kettcar mit zwei Sitzen, damals, als meine Töchter noch an ihn geglaubt haben. Im Sommer gehen wir im Motzener See baden, wir haben sogar zwei Gummiboote, mit denen wir rausschippern können. Wenn ich genau darüber nachdenke, ist dieses Stück Land der Inbegriff von heiler Welt für mich.

In diesem Jahr hat sich etwas verändert. Etwas ganz Entscheidendes. Meine älteste Tochter war in diesem Sommer bisher nicht jedes Mal in unserem Garten mit dabei. Ich werde sie ab jetzt nach der Märchenfigur Belle nennen, weil sie klug und wunderschön ist und die französische Sprache so gernhat. Vor ein paar Wochen war Belle mit einer neuen Freundin aus ihrer Klasse verabredet und deshalb nicht mit in Sanssouci. Neulich hat sie mit ihrer Italienisch-Klasse ein Street Food Festival in Berlin-Friedrichshain besucht. Ich freue mich total darüber, wenn sie mit anderen abhängt und nicht nur mit uns. Aber muss sie ausgerechnet in Bullerbü fehlen? Lisa, Lasse und Bosse sind doch auch immer da und essen Zimtwecken, fangen Krebse oder ziehen Lämmchen auf. Es fühlt sich komisch an, wenn Belles Sitzplatz im Auto nicht besetzt ist und ihr Gartenstuhl leer bleibt. Niemand da, der über die Wärme klagt und sich den grauen Kapuzenpullover übers Gesicht zieht, um die Sonnenstrahlen abzuschirmen. Na gut, könnte man erwidern, das ist der Lauf der Dinge. Vielleicht mit tröstendem Unterton. Und ich weiß das natürlich auch. Aber ich muss mich erst noch daran gewöhnen.

Vergangene Woche gab es ein Sommerfest an ihrem Gymnasium. Nach der Feier zogen einige ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler weiter: in den Berliner Gleisdreieckpark, wo die Party wohl erst richtig losging. Sie war nicht mit dabei und weiß es nur aus Erzählungen. Seither versuche ich angestrengt, mich daran zu erinnern, wie ich mit fast 15 war. Bin ich durch irgendwelche Parks gezogen, habe Alkohol beim Späti gekauft und diesen etwa auch noch konsumiert? Unvorstellbar! Gab es überhaupt schon Spätis in den 90ern? Wann habe ich die erste Privatparty besucht, bei der es keine als Elefanten verzierte Schokoküsse mehr gab (mit einem Erdnussflip als Rüssel und Chips als Ohren)? Wie lange durfte ich wegbleiben? Und wann habe ich das erste Mal Alkohol getrunken? Ist meine Mutter schier wahnsinnig geworden vor Sorge, mir könnte auf dem Nachhauseweg etwas zustoßen? War mein großer Bruder an meiner Seite, um mich zu beschützen? Ehrlich, ich weiß das alles nicht mehr. (Doch, meine Mutter hat sich sehr gesorgt, und ja, mein Bruder hat mich immer beschützt, wenn wir dieselben Partys besucht haben.)

Ich glaube, mein Mann und ich werden all die Eckpunkte des Feierns und Weggehens demnächst mit Belle aushandeln müssen. Sie ist eine der Jüngsten in ihrer Klasse, das macht es nicht einfacher. Ich denke, dass für sie andere Maßstäbe gelten müssten als für ihre Mitschüler: unter 15 und über 15. Eine magische Grenze, die ich bei Bedarf immer weiter verschieben könnte. Wenn sie im Oktober Geburtstag hat, könnte ich sagen: „Die anderen sind aber schon fast 16, ist doch klar, dass sie länger weggehen dürfen.“ Eine ihrer besten Freundinnen, acht Monate älter als Belle, war neulich erst um halb eins zuhause. Halb eins? Wie soll ich es schaffen, so lange wach zu bleiben und besorgt aus dem Fenster in die dunkle Nacht zu starren? Meine Friseurin, die ich seit fast 20 Jahren kenne und die etwa in meinem Alter ist, sagte: „Ist doch besser, alle kommen gemeinsam um halb eins zurück als eine allein um elf Uhr.“ Ich musste ihr recht geben.

Vor einigen Jahren dachte ich, es wäre das Schwierigste, eine Dreijährige im Blick zu behalten, damit sie nicht in den Goldfischteich fällt. Jetzt weiß ich es besser.

6 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Der Nachwuchs wird flügge“

  1. Ein Bungalow am See, wie schön. Das ist doch die ideale Kombi zwischen Stadt und Natur.
    Was deine Große betrifft und dein Hadern mit ihrem Unabhängigkeitsstreben, sitzen wir im selben Boot. Meine ist im Februar geboren, gleicher Jahrgang. Sie gehört also zu den Älteren in der Klasse.😉 Bei uns „auf dem Land“ ist noch dazu das Problem, dass sie oft ein Elterntaxi braucht, um zu und von ihren Unternehmungen zu kommen. Und stell dir vor, sie bevorzugt wann immer es geht die Eltern der anderen. Das muss man erstmal verkraften. 😒

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    1. Was hattest du neulich geschrieben? Dass man irgendwann von seinen Teenagern verstoßen wird. Das wird sich bei uns zwar nicht am Thema Elterntaxi manifestieren, aber ich bin mir sicher, dass mir das an anderer Stelle blüht.

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  2. Durch deinen Beitrag fühlte ich mich total an die Zeit mit meiner Tochter erinnert. Sie ist damals mit 15 die ersten Male bis nach Mitternacht in Berlin unterwegs gewesen und ich habe gehofft, das nichts passiert. Handy hatte sie noch nicht und war mit drei Mitschülerinnen unterwegs. Ich habe gedacht, das ist deine Tochter und du kennst sie doch am besten. Sie hat mir auch danach und die nächsten Male immer alles (oder fast alles erzählt) was mich sehr beruhigt hat. Dadurch hatte ich das Gefühl sollte etwas gar nicht gehen, würde ich es mitbekommen bzw. sie mir von alleine sagen. Ich habe ihr vertraut und bald danach ist sie ja für Monate nach Essen ins Internat gezogen, was ich auch nur ausgehalten habe, weil so eine vertraute Bindung zwischen uns war.
    – Ich denke liebe Sophie, dass du deiner/eurer Tochter wahrscheinlich auch vertrauen kannst und sie bei schwierigen Situation oder Erfahrungen, jederzeit mit euch darüber reden kann. Sei auch stolz, wenn du in dieser heutigen Zeit, keine Helikopter-Mutter bist….

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    1. Liebe Patty, vielen Dank, dass du deine Erfahrungen von damals mit mir teilst. Wahrscheinlich wächst man in diesen neuen Lebensabschnitt seiner Kinder hinein und wahrscheinlich ist Vertrauen in den jeweils anderen, wie du es so schön beschreibst, die beste Voraussetzung dafür. Wir können uns auf unsere Kinder verlassen – und sie sich auf uns. Und deshalb erzählen sie, was sie erlebt haben. Bis jetzt ist es immer so gewesen und ich hoffe, es bleibt auch so. Liebe Grüße, Sophie

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