Immer wieder: Schüleraustausch

oder: Die Glashaus-Chroniken

Als ich 16 Jahre alt war, bin ich für ein Jahr als Austauschschülerin nach Argentinien gegangen. Es war im Sommer 1995, am Ziel meiner Reise herrschte allerdings tiefster Winter, es lässt sich nicht anders sagen. Ich saß angeblich im vorerst letzten Flugzeug, das damals im patagonischen Ort Río Gallegos die Landeerlaubnis erhielt. Danach wurde der Flughafen wegen des enormen Schneefalls gesperrt. In meiner Erinnerung lag der Schnee hüfthoch.

Er war auch schuld daran, dass plötzlich das Wasser wegblieb, als ich ein paar Tage nach meiner Ankunft eingeseift und mit Schaum in den Haaren unter der Dusche stand. Nur mit Handtuch bekleidet musste ich meine Gastfamilie darauf aufmerksam machen. Ich sprach zu dieser Zeit kaum Spanisch, aber ich glaube, das war in diesem Moment mein geringstes Problem. Meine Gastfamilie sammelte im Garten Schnee, von dem es mehr als genug gab, und erhitzte ihn in einem Topf auf dem Herd, damit ich mich damit abduschen konnte.

Ich habe auch viele weitere lustige, verrückte, schöne und unschöne Erfahrungen in meinem Austauschjahr gemacht. Es war eine gute und eine herausfordernde Zeit, ich möchte sie nicht missen, weiß aber nicht, ob ich dieselbe Entscheidung noch einmal treffen würde.

Für Austauschschüler gab es viele Regeln. Meistens habe ich mich an die strengen Vorgaben gehalten. Zum Beispiel sollten wir möglichst keinen telefonischen Kontakt zu unseren Eltern haben. Ich habe das sehr ernst genommen und erst wieder mit ihnen gesprochen, als ich rund sieben oder acht Monate in Argentinien war. Aber das soll natürlich nicht heißen, dass wir vorher keinen Kontakt hatten. Gottbewahre! Wir haben uns natürlich geschrieben: auf hauchdünnem, blauem Luftpost-Papier.

Ich weiß, dass meine und auch manchmal andere Kinder meine Blogbeiträge lesen. Vielleicht sollte ich deshalb lieber nicht schreiben, in welchen Punkten ich mich nicht an die Regeln gehalten habe, von wegen Vorbildfunktion und so. Andererseits mag ich es nicht, wenn man sich als unfehlbar darstellt. Ich habe während des Schüleraustauschs ab und zu Alkohol getrunken (aber erst, als ich schon 17 war) und ich bin ein paar Mal ohne Führerschein Auto gefahren, aber nur abends oder nachts, wenn kaum jemand unterwegs war. (Dafür fahre ich jetzt gar nicht mehr, obwohl ich seit Jahrzehnten einen Führerschein habe.)

Einmal habe ich mich von jungen Männern, die ich nicht kannte, von einer Disko zur anderen fahren lassen. Das war Austauschschülern zwar nicht ausdrücklich verboten, aber wahrscheinlich das Dümmste, was ich je in meinem Leben gemacht habe. Ich habe es nie wieder getan und hätte es nicht tun sollen. Ich kam unbeschadet bei der Disko an, aber ich hätte mich nicht darauf verlassen dürfen.

Seit Montag haben wir eine Austauschschülerin aus Norwegen zu Besuch. Sie bleibt nur bis morgen, es ist also ein sehr überschaubarer Zeitraum. Sie ist 17 Jahre alt, ein liebes Mädchen, sofern ich das beurteilen kann. Baby Boss und ich hatten zur Begrüßung Cookies gebacken, abends aßen wir alle zusammen Nudeln mit Tomatensauce, ein typisch deutsches Gericht eben. Danach saßen wir im Wohnzimmer und plauderten über Gott und die Welt, über Zukunftspläne und schicksalhafte Begegnungen. Ich glaube, in dem Moment hatte ich sie fast ein bisschen ins Herz geschlossen. Wenn nur wenig Zeit ist, passt sich mein Herz an und schafft schnell neue Räume.

Später fragte sie, ob es in Ordnung wäre, wenn sie sich noch auf eine kleine Runde mit einer Freundin treffen würde, die bei einer ehemaligen Klassenkameradin von Belle untergekommen ist, die uns gegenüber wohnt. „Na klar“, sagten mein Mann und ich und gaben als Zeit für ihre Rückkehr Viertel vor zehn vor. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen streng, aber sie hatte natürlich keinen Schlüssel und würde klingeln müssen. Baby Boss und Supergirl wären um diese Uhrzeit aber schon im Bett. Und am Dienstag sollten die norwegischen Austauschschüler früh mit ihren deutschen Counterparts zur Schule gehen.

Um Viertel vor zehn schrieb das Mädchen eine Nachricht an Belle: Alle Norweger würden gemeinsam in einem Restaurant sitzen und sie könnte jetzt unmöglich gehen. Sie wolle nicht problematisch erscheinen und könne auch einfach woanders übernachten, nämlich bei der Austauschschülerin, mit der sie sich auf eine Runde hatte treffen wollen. In diesem Moment stiegen Zweifel in mir auf, ob es nicht von Anfang an klar gewesen wäre, dass es nicht um eine Runde um den Block, sondern um ein Treffen im Restaurant gegangen war.

Mein Mann und ich waren überrascht, vielleicht sogar übertölpelt. „Schreib ihr, dass die Vereinbarung lautet, dass sie bei uns wohnt und schläft und um halb elf zurück sein soll“, sagten wir zu Belle. Ich weiß nicht mehr, ob daraufhin noch eine Antwort von ihr kam. Es war zwischenzeitlich zehn Uhr. Mein Mann und ich begannen uns für die Nacht fertig zu machen.

Ich musste an einen Schüleraustausch denken, der mich in der zehnten Klasse nach London zur Partnerschule meines Gymnasiums geführt hatte. Es war eine reine Jungenschule, erst in der Oberstufe kamen Mädchen dazu. Wir hatten also alle männliche Austauschpartner. Meiner hieß Sebastian (englisch ausgesprochen natürlich) und wir verstanden uns wirklich gut, auch, als die Engländer zu uns nach Berlin kamen. Eines Abends blieb er mit ein paar Freunden länger in der Kneipe/dem Restaurant, als vereinbart war. Ich weiß nicht, ob ich mit dabei gewesen und ohne ihn nach Hause gekommen oder ob ich gar nicht erst unterwegs gewesen war. Jedenfalls machte sich mein Vater auf den Weg zur Kneipe/dem Restaurant, fand Sebastian, tippte ihm auf die Schulter und sagte, als dieser sich umdrehte: „You know who I am. I am your host dad.“ Und Sebastian kam mit ihm nach Hause und fand das alles wohl auch nicht schlimm. Mein Vater schilderte es damals eher so, als ob es Sebastian „kind of“ gutgetan hätte, dass sich jemand darum kümmerte, was er tat. Dass ihn jemand daran erinnerte, dass es Regeln gab. Dass sich jemand um ihn sorgte und ihn abholte.

Um halb elf schickte unsere Austauschschülerin eine weitere Nachricht. Sie würde gern weiterhin mit ihren Freunden abhängen, die Party sei noch nicht vorbei. Beim Austausch gehe es schließlich auch darum, die andere Kultur kennenzulernen. (Den Zusammenhang konnte ich nicht erkennen.) Sie würde jedenfalls nicht nach Hause kommen, sondern bei der Freundin übernachten.

Mein Mann und Belle und ich fühlten uns irgendwie machtlos. Unsere Austauschschülerin war bereits bei der ehemaligen Klassenkameradin auf der anderen Seite der Straße. Belle konnte das anhand der „Snap Map“ nachvollziehen. Ich wollte mich nicht wieder anziehen, dorthin laufen und sagen: „You know who I am. I am your host mum.“  Stattdessen ärgerte ich mich, bis mir um etwa halb zwölf endlich die Augen zufielen.

Belle hatte für die Norwegerin ihr Zimmer geräumt. Sie schlief in dieser Nacht auf einer Matratze im Wohnzimmer, während ihr eigenes frischbezogenes Bett leerblieb. Auf dem Kopfkissen hatte ich als Willkommensgeschenk eine Schachtel Schokokugeln platziert.

6 Kommentare zu „Immer wieder: Schüleraustausch“

  1. Oje. Wenn ich deinen Bericht so lese, bin ich froh, dass unsere beiden Austauschschülerinnen anders gestrickt waren. Allerdings ist beides schon länger her, 2008 eine Schwedin und 2010 eine Tschechin. Die waren beide wirklich nett.
    Bei unserer Jüngsten ist das alles unter den Tisch gefallen, noch im Gefolge der Coronazeit. Nun hat sie nächste Woche Mottowoche und nach den Osterferien geht es ins Abi. Kindheit ade…

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    1. Im vergangenen Jahr war eine Französin bei uns zu Besuch und wir hatten eine echt gute Zeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass alles gut läuft, halte ich also noch immer für groß und vielleicht sogar für größer.
      Weil ich selbst ein Jahr im Ausland war, gehört es eigentlich zu meinen Plänen, auch mal jemanden für eine längere Zeit bei uns aufzunehmen. Mein Mann hat dieses Projekt jetzt aber erst einmal in Frage gestellt.
      Wie schade, dass wegen Corona so vieles untergegangen ist, nicht wahr? Ich denke wirklich nur sehr ungern daran zurück.
      Alles Liebe und toi, toi, toi fürs Abi!

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  2. Da prallen bei deiner Geschichte zwei gegensätzliche Interessen aufeinander: Gastschüler, die Party machen wollen, sowie Gastfamilien, die den Alltag gestalten müssen, inklusive festen Schlafenszeiten…
    Wie geht die Geschichte weiter? Hat die Norwegerin den Weg in ihr Bett doch noch gefunden?

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    1. Ja, das hat sie. Die mitgereisten norwegischen Lehrer und die in Berlin in den Austausch involvierten haben deutliche Ansagen gemacht, nachdem mein Mann am nächsten Morgen einen von ihnen kontaktiert hatte. Natürlich gab es bestimmte Regeln auch schon vorher, offensichtlich wurden sie nur nicht befolgt. (Oder nicht von allen.)
      Wir haben unsere Austauschschülerin erst am nächsten Abend wiedergesehen und sie hat sich sehr für ihr Verhalten entschuldigt. Ich konnte ihr nicht lange böse sein (beziehungsweise war ich es schon nicht mehr beim Wiedersehen) und insofern haben wir die Kuh alle gemeinsam wieder vom Eis bekommen. Das ist auch eine Leistung.

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  3. Was für eine blöde Situation, und das gleich am ersten Abend. Gut, dass ihr wieder zusammengefunden habt. Sicher wird es dem Mädchen im Nachhinein klar werden, dass sie sich falsch verhalten hat. Spätestens, wenn sie selbst irgendwann eine/n Austauschschüler/in beherbergt.
    Über deine eigenen Geständnisse musste ich schmunzeln und sehr staunen, dass du noch vor dem Führerschein Auto gefahren bist. Das Verbotene scheint nicht nur reizvoll zu sein, sondern auch leichter zu fallen. Verrückt, oder?
    Ich wünsche noch einen regelgerechten, entspannten Abend mit der Austauschschülerin!

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    1. Ich frage mich auch manchmal, warum ich mich damals Dinge getraut habe, die mir heute fast schon den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Ich bin ganz sicher nicht mehr so entspannt wie als Teenager und junge Frau. Autofahren hat mir gar nichts ausgemacht, im Gegenteil: Ich war total gern und manchmal auch ohne Ziel mit dem Auto unterwegs. Und geflogen bin ich zum Beispiel auch ohne die Sorge, dass gleich mein letztes Stündlein geschlagen haben könnte. Oh Mann, da würde ich gern wieder hinkommen, denke ich manchmal.
      Gestern Abend hat sich unsere Austauschschülerin übrigens noch von unterwegs gemeldet: Ob sie bis 24 Uhr wegbleiben dürfe (die Vorgabe der Lehrer war seit dem Vorfall 22.30 Uhr), es sei doch schließlich der letzte Abend. Die Tür könnten wir ja offenstehen lassen, damit sie nicht klingeln bräuchte. In Oslo kann man so etwas vielleicht sogar machen, in Berlin definitiv nicht. Mein Mann hat ihr dann freundlich und bestimmt über Belles Handy geantwortet, dass wir uns freuen würden, sie um 22.30 Uhr bei uns zuhause zu begrüßen. 😉
      PS Und nur, damit du mich nicht falsch verstehst. Eigentlich mochte ich das Mädchen und ich denke, dass es uns nicht in eine doofe Situation bringen wollte. Ich denke, dass die Reisegruppe in einer Jugendherberge besser aufgehoben gewesen wäre. Der Austausch-Aspekt, die Möglichkeit und auch der Wille, Zeit mit und in einer deutschen Familie zu verbringen, war nicht wirklich spürbar.

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