oder: Alles unter Kontrolle?
Als ich aufwache, ist es erst halb vier am Morgen. Den Wecker habe ich mir auf vier gestellt, er hat also noch nicht geklingelt. Ich bin trotzdem wach geworden und ärgere mich ein bisschen darüber. Ich fühle mich wie gerädert und der Blick in den Badezimmerspiegel bestätigt mir, dass ich auch so aussehe. In zwei Stunden geht mein Zug nach Hamburg.
Ich lege mich zurück ins Bett und schließe die Augen. Kommt der Schlaf zurück? Nein. Ich schlage die Augen wieder auf und starre vor mich hin.
Ich wünsche mir, dass mir mein Mann einen Latte macchiato ans Bett bringt. Normalerweise fangen meine Tage mit diesem Ritual an. Ich habe es vom ersten Moment an geliebt. Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren er das schon so macht. Ich brauche es jedenfalls. Dass sich jemand um mich kümmert. Mich behutsam dem Tag übergibt. Früher habe ich den Kaffee für uns beide wenigstens am Wochenende gemacht. Mit der neuen Kaffeemaschine, die wir seit zwei Jahren haben, kenne ich mich nicht aus.
Ich stehe widerwillig auf und rühre mir einen Instantkaffee aus dem Beutel an. Die Wohnung ist kalt und liegt weitgehend im Dunkeln. Licht schalte ich immer nur kurz dort ein, wo ich mich befinde. Die Lichtflecken schlafwandeln hinter mir her: von der Küche ins Bad und wieder zurück. Ich möchte niemanden aufwecken. Wobei, doch, das will ich eigentlich schon. Ich möchte, dass mein Mann aufsteht, mir einen vernünftigen Latte macchiato macht und mich dabei überwacht, wie ich all die wichtigen Dinge einpacke, die ich auf dem Weg nach Hamburg und vor Ort brauche: mein Zugticket, die Bahncard, mein Handy, das Portemonnaie. Für alles bin ich allein zuständig. Sollte eigentlich okay sein, oder? Ist es aber nicht, weil es mich nervös macht. Schrecklich nervös.
Meine Zwangsstörung lässt mich an meiner Wahrnehmung zweifeln: Steht da jetzt auch wirklich mein Name auf der Bahncard oder habe ich aus Versehen die falsche gegriffen? Ich habe die Plastikkarte schon gestern gecheckt und eingesteckt, jetzt hole ich sie wieder aus meinem Portemonnaie und lese sicherheitshalber noch mal nach. S-O-P-H-I-E. Ich schiebe die Bahncard zurück und stecke das Portemonnaie in meine Handtasche. Ich kontrolliere, ob ich die Zugtickets habe und den Ausdruck für das Hotel, beides wird mit einer Büroklammer zusammengehalten. Ich muss an meine Mutter denken und daran, dass sie ihre Bahnunterlagen in einer Klarsichtfolie transportiert.
Ich verlasse die Wohnung und gehe die Treppe hinunter. Im ersten Stock kehre ich um, trage meinen Rollkoffer wieder in die dritte Etage hinauf und rüttle einige Male kräftig von außen an unserer Tür. Habe ich sie auch wirklich geschlossen? Ich wollte nur sichergehen. Nicht, dass sich jemand unbemerkt in unsere Wohnung schleichen kann.
Am S-Bahnhof Bundesplatz wühle ich in meiner Handtasche, um zu kontrollieren, ob ich noch alles habe: Handy, Portemonnaie, Schlüssel. Dabei ziehe ich aus Versehen meine Kopfhörer heraus und diese im Schlepptau das kleine Plastikfläschchen mit Desinfektionsmittel. Es fällt auf dem Bahnsteig zu Boden und schaut erschrocken zu mir auf. „Lässt sie mich jetzt hier liegen?“, scheint es sich zu fragen. Ich hätte ehrlich gesagt große Lust dazu. Wie viele Leute sind schon mit Hundedreck am Schuh über diese Stelle geschlurft? Wie viele Tauben sind mit ihren verkümmerten, vom eigenen Kot verätzten Füßchen dort entlang getrippelt? Wie viele junge Männer haben auf den Boden gerotzt? Wie viele gekotzt?
Aber ich brauche das Fläschchen, falls ich während der Zugfahrt auf die Toilette muss. Dann reicht es nämlich nicht aus, mir dort die Hände zu waschen. Dann muss ich mir danach auf jeden Fall meine Hände desinfizieren. Ich weiß das, also hebe ich das Fläschchen widerwillig auf. Der Boden schaut auf den ersten, zweiten und dritten Blick sauber aus. Ich weiß natürlich, dass er es nicht ist, aber was bleibt mir anderes übrig als darüber hinwegzusehen?
Über den Umstand, dass ich im Zug vielleicht auf die Toilette gehen muss, habe ich mir im Vorfeld auch einige wichtige Gedanken gemacht. Meine Sorge galt neben der grundsätzlichen Ekligkeit solcher Örtlichkeiten dem Umstand, dass ich meinen Rollkoffer ja wohl kaum dorthin mitnehmen könnte. Wer sollte während meiner Abwesenheit auf ihn aufpassen? Ich spielte die Szene in Gedanken durch und sah mich ein älteres Ehepaar fragen, ob sie mir diesen Gefallen tun könnten. Zu Menschen, die mich an meine Eltern erinnern, hätte ich Vertrauen. Dann fielen mir aber die Schumachers (Englisch ausgesprochen!) aus dem Film Dirty Dancing ein. Die sind ja bekanntlich ein in mehreren Bundesstaaten gesuchtes Diebespaar. Vielleicht sollte ich einfach niemandem trauen und gar nicht erst auf die Toilette gehen. Ich beschließe, während der Zugfahrt weitestgehend aufs Trinken zu verzichten.
Abends, von Hamburg aus, frage ich meinen Mann am Telefon: „Ich hoffe, ich habe dich heute früh nicht geweckt?“ „Nein, schon gut“, sagt er. „Ich war nur kurz auf der Toilette, nachdem du gegangen bist. Als ich in den Flur kam, habe ich gehört, wie jemand an der Tür gerüttelt hat.“
Ich war es nicht, es waren die Schumachers.
Das ist wieder sehr vergnüglich geschrieben, liebe Sophie. Ich hoffe, es hilft dir sogar, mit schriftstellerischem Augenzwinkern von deinen Stresssituationen zu berichten.
Liebe Grüße!
PS: Ich riskiere auch lieber das Verdursten im Zug, kaue notfalls Kaugummis.
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Es hilft mir tatsächlich, liebe Anke. Wie sagt man so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und über meine privaten Kanäle hat sich die eine oder andere dazu bekannt, vor Reisen auch einem Kontrollzwang zum Opfer zu fallen. Hat ja auch sein Gutes: Ich saß noch nie ohne Ticket oder Bahncard im Zug. 😉
Und, ja, ich meine mich an eine Geschichte bei dir zu erinnern, die ebenfalls eine Zugfahrt zum Thema hatte. Hilf mir mal auf die Sprünge!
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Ach ja, die Geschichte, als der Strom im Abteil ausfiel und somit die Klimaanlage, der Durchgang zu den anderen Wagen und die Toilette blockiert waren. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich trank, weil es bei 35 Grad Außentemperatur zunehmend heiß wurde, oder eher nicht, um nicht aufs Klo zu müssen. Doch, letzteres! 😉
Ich kenne einen (Kollegen), der druckt sich auch heutzutage immer zwei Flugtickets aus, für jede Hosentasche eine Kopie. Man kann ja nie wissen. Den QR-Code auf dem Handy hat er natürlich auch. 😂
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Liebe Sophie,
wieder mal beschreibst Du auf sehr sympathische Art die kleinen Situationen des Alltags. Ich rege an, nunmehr den Horizont in einem zusätzlichen Punkt zu erweitern: ran an die Kaffeemaschine. Nach all den Jahren hat Dein Mann sicher auch mal einen servierten Kaffee verdient 😉 oder eine Besucherin, wenn du allein zuhause bist. Wer mitten in der Nacht nach Hamburg reisen kann, kann auch im Handumdrehen lernen, die Kaffeemaschine zu bedienen. You’ll rock it, da bin ich mir ganz sicher, gutes Gelingen!
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Ja, liebe MissLazy, vielleicht ist jetzt tatsächlich der Zeitpunkt gekommen, die Kaffeemaschine zu bedienen! Morgen die Kaffeemaschine, übermorgen das Auto! Auf geht’s!!! 😉
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Viel Spaß in unserer so wunderschönen Stadt.
Gruß aus Hamburg-Ottensen.😁
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Ach, das ist ja nett! ☺️
Hamburg gefällt mir wirklich sehr. Es war nicht mein erstes Mal dort und es wird auch nicht mein letztes Mal gewesen sein!
Eine meiner Freundinnen und ich waren bei einem Schreibseminar. Das war in Hamburg-Altona.
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Du solltest dich demnächst mal messen – du bist bestimmt ein paar Zentimeter gewachsen seit diesem Morgen, angesichts der ganzen Widrigkeiten, denen du getrotzt und die du bravourös gemeistert hast 😉
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Hihi. Wahrscheinlich. ☺️
Aber ich muss sagen: mehr als einmal hätte ich mir meinen Mann an meine Seite gewünscht. Und nicht nur, damit er Kaffee macht oder irgendetwas überwacht.
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