Immer wieder: Beim Zahnarzt

oder: Hochzeit auf Mauritius

Manchmal neige ich zur Übertreibung. Dann rufe ich zum Beispiel durch die Wohnung: „Das habe ich dir doch schon hundert Mal gesagt, Baby Boss!“ Und dabei habe ich es vorher vielleicht nur genuschelt und das auch nur zwei-, dreimal. Deshalb habe ich jetzt extra nachgezählt, um wirklich sicherzugehen: In den vergangenen sechs Wochen war ich insgesamt elfmal Mal beim Zahnarzt. Weil das absurd klingen könnte, möchte ich versuchen, die Geschichte ein bisschen aufzudröseln.

Das erste Mal war ich in einer Praxis, die nicht nur eigene Patienten, sondern auch Notfälle behandelt – und das sogar am Wochenende. Es war zwar Mittwochmorgen, aber mein Zahnarzt befand sich im Urlaub und ich wäre vor Schmerzen fast durchgedreht. War ich ein Notfall? Ich denke, ja. Der junge (attraktive) Arzt ließ eine Röntgenaufnahme erstellen, die nicht eindeutig belegte, dass wir es mit einer Zahnentzündung zu tun haben könnten, und behandelte mich deshalb erst mal auf eine Zahnfleischentzündung hin. Außerdem glich er die Füllung des schmerzenden Zahnes aus. „Die war in einem ganz schlechten Zustand“, sagte er. „Können Sie mal eben zubeißen? Ist die Füllung zu hoch oder in Ordnung?“ Mir liefen vor Schmerzen Tränen die Wangen hinunter. „Ich kann nicht zubeißen“, sagte ich. Und: „Von Freitag bis Samstag bin ich verreist.“ „Dann stelle ich Ihnen für den Notfall ein Rezept für ein Antibiotikum aus“, sagte der Zahnarzt. „Gegen manche Antibiotika bin ich allergisch“, sagte ich und zeigte mit letzter Kraft meinen Allergiker-Ausweis. Er verschrieb mir eines, das dort nicht genannt war.

Die Schmerzen wurden nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Ich hielt mich mit Ibuprofen über Wasser, konnte auf der linken Seite nicht kauen, in meinem Kiefer pochte und puckerte es. Am Donnerstagmittag ging ich zur Apotheke, besorgte das Antibiotikum und warf es ein.

Am Freitagmorgen wollten mein Mann und ich mit der Bahn nach Düsseldorf fahren. Beim Duschen entdeckte ich einen Hautausschlag, der seitlich an meinem Oberkörper zwischen Brust und Becken verlief, kleine rote Punkte. Auf dem Bahnsteig wartend telefonierte ich mit meiner Schwägerin, Ärztin und gute Fee in Personalunion. „Du darfst das Antibiotikum AUF KEINEN FALL weiter nehmen“, sagte sie. Und: „Ich stelle dir ein Privatrezept für ein anderes aus und schicke es dir auf dein Handy.“

Der Apotheke am Düsseldorfer Hauptbahnhof war das zu wenig. „Wir brauchen ein Original-Rezept. Was ist denn, wenn Sie jetzt einen anaphylaktischen Schock bekommen und tot umfallen?“ Ja, was wäre dann? Dann würde sich eine meiner Haupt-Horror-Visionen bewahrheiten und ich könnte abends nicht zum Ed-Sheeran-Konzert gehen. Ich wusste fast nicht, was schlimmer wäre.

Der nächste Zahnarztbesuch fand also in Düsseldorf statt, in Little Tokyo, um genau zu sein. Wusstet ihr, dass in Düsseldorf die größte japanische Gemeinde Deutschlands lebt? Nein? Vielleicht du da hinten im Kimono? Auch nicht? Aber mein Mann, der weiß so etwas natürlich und trägt es im Plauderton vor, während ich mit dicker Backe durch die Rheinmetropole schlurfe.

In der Praxis erzählte ich meine halbe Lebens- und ganze Leidensgeschichte. Der Ausschlag war zwischenzeitlich schlimmer geworden. Während meiner Schilderung fiel der Name Ed überdurchschnittlich oft. Ich bekam ein Rezept für ein anderes Antibiotikum. Beim Konzert abends war ich auf Ibuprofen und Clindamycin und hätte bis zum Morgengrauen durchmachen können. Als mein Mann und ich ins Hotel zurückkamen, war mein kompletter Oberkörper mit Ausschlag überzogen. Am nächsten Morgen aber war er kaum mehr zu sehen, das neue Antibiotikum war also safe. Nur die Zahnschmerzen blieben.

Als wir am Samstagabend wieder in Berlin waren, fuhr ich mit dem Fahrrad in die Zahnklinik, schaffte es aber nur bis ins Foyer. Dort las ich auf einem handgeschriebenen Zettel, der mit Tesafilm an einen Glaskasten geklebt war: Patientenaufnahmestopp. Das Wort könnte ich ja mal beim Scrabble-Spielen legen, ich hätte im Handumdrehen gewonnen.

Am Sonntagmorgen radelte ich wieder zur Notfallpraxis, ich glaube, es war 9 Uhr. Ich traf auf einen anderen Arzt (auch jung und attraktiv, immerhin). „Die Füllung ist ja viel zu hoch“, sagte er. „Kein Wunder, dass sie Schmerzen haben.“ „Ja“, sagte ich. „Das ist aber nur Teil des Problems. Die Schmerzen hatte ich ja auch schon vorher.“ „Okay, ich trage jetzt einfach mal die Füllung ab. Und dann geben wir Ihrem Zahn eine letzte Chance. Oder soll ich ihn direkt öffnen?“, fragte der Zahnarzt. „Ich glaube nicht“, sagte ich. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Am nächsten Tag wurde der Zahn aufgebohrt. Diesmal war wieder der Arzt vom ersten Mal im Dienst. Jetzt war das Problem bekannt und benannt: Es war eine Zahnentzündung, wieder so ein schönes Scrabble-Wort mit zwei Z (je drei Punkte) und einem Ü (sechs Punkte).

„Für die Wurzelkanalbehandlung (Scrabble!!!) brauchen wir im besten Fall noch zwei weitere Termine“, sagte der Arzt. „Also insgesamt drei.“ Bei mir wurden es fünf.

Ich sah den Zahnarzt wöchentlich und fast öfter als meinen Mann. Wir lachten uns verlegen an, wenn ich im Zahnarztstuhl saß und er zur Glastür hereinkam. Wir kamen ins Plaudern und ich trug verschiedene Informationen zu ihm zusammen – und er zu mir. Als ich meinem Mann davon erzählte, sagte er: „Schön, dass du in der Praxis Anschluss gefunden hast.“

Am Tag vor meinem Geburtstag – es war der bis dahin insgesamt neunte Zahnarztbesuch – konnte der Arzt endlich und wie geplant die Kanäle im Innern mit irgendeinem Material füllen. Und auch der Zahn sollte wieder eine Füllung bekommen. „Ich mache das gern erst mal wieder nur provisorisch“, sagte er, „und die richtige Füllung dann erst am nächsten Tag.“ „Morgen?“, fragte ich. „Ja.“ „Muss es unbedingt morgen sein?“. Ich rutschte nervös auf dem Zahnarztstuhl hin und her. „Wir können das auch nach zwei Tagen machen“, sagte er. „Gut“, sagte ich. „Morgen habe ich nämlich Geburtstag. Aber wir können den natürlich auch gemeinsam feiern.“ Der Zahnarzt lachte. Am Tag nach meinem Geburtstag – es war der vorletzte Termin – gratulierte er mir nachträglich. Ich fragte mich, ob er in meiner Patientenakte nachgeschaut hatte, wie alt ich geworden war.

Gestern fand der vorerst letzte Termin statt. Es wurden Abdrücke meines Ober- und Unterkiefers genommen, damit für mich wieder eine Zahnschiene hergestellt werden kann. Die brauche ich nachts, damit ich nicht knirsche. „Ich bin erst in zwei Wochen wieder da“, sagte der Zahnarzt ungefähr hundert Mal. Vielleicht nuschelte er es aber auch nur. Trotzdem fragte ich: „Fahren Sie in den Urlaub?“ „Ja, zur Hochzeit meines Bruders nach Mauritius. Da komme ich nämlich her.“ „Wow!“, sagte ich. Er lächelte. „Ich bin bestimmt die erste Person aus Mauritius, die Sie kennengelernt haben.“

Wer weiß, vielleicht erzählt er mir ja ein bisschen von der Feier, wenn ich in zwei Wochen meine Zahnschiene abhole.

3 Kommentare zu „Immer wieder: Beim Zahnarzt“

  1. Schön, nach langer Zeit wieder etwas von dir zu lesen!
    Ich fühle mit dir, was diese Zahngeschichte angeht – gut, dass du jetzt durch bist…
    Und dein Mann muss sich keine Sorgen machen, wenn du ständig attraktive Zahnärzte kennenlernst, oder?

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    1. Nein, muss er auf gar keinen Fall. Mein Mann ist einer, der mit mir sogar bis nach Düsseldorf fährt. So einen finde ich nie wieder! Da kann so ein Zahnarzt mit seinem Top-Einkommen und PERLWEISS-Lächeln doch gar nicht mithalten. Und allein, dass ich jetzt an PERLWEISS-Zahncreme denke, zeigt doch, dass meine besten Jahre ohnehin hinter mir liegen …

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  2. Ich lese das und denke nur oh wie gut, dass ich mit 35 Jahren ein Vollgebiss bekam.
    Ich hab jetzt schon das 2te, aber wenigstens bleiben mir seitdem Zahnweh erspart die hatte ich vorher 20 Jahre.
    Ich hab den geilsten Zahnarzt der Welt.
    Ok…er ist in Rente aber die Praxis ist klasse.
    Wenn ich dieses Jahr hingehe besteht mir neues Gebiss bevor, weil mir letztes Jahr schon ein Zahn rausbrach und meine Zahnärztin mir unbedingt ein Gebiss mit Halterung verabreichen möchte da der Unterkiefer immer mehr abbaut.
    Ich hab nun richtig bammel,
    dass sich das immer wieder entzünden könnte, wenn ich da wieder was im Zahnfleisch reingesetzt bekomme und damit wäre mir ja nun gar nicht geholfen.
    Dir viel Glück mit dem neu aufgebauten Zahn und der neuen Schiene.

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