oder: Die Macht des magischen Denkens
Kennt jemand das Gefühl, genau zu wissen, dass die Person, mit der man verabredet ist, zum Treffen zu spät kommen wird? Aber dennoch ist man selbst pünktlich? Nur für den Fall der Fälle, dass man danebenliegt (obwohl man weiß, dass man es nicht tut).
Neulich hatte ich so ein Treffen. Ich hatte mich schon seit längerer Zeit darauf gefreut. Ich war mit einem Kinder- und Jugendbuch- und Erwachsenenbuchautor verabredet, nennen wir ihn mal Balthasar Tempo, weil ich nicht weiß, ob er seinen richtigen Namen in diesem Briefverkehr lesen möchte. Ich wurde ihm über Umwege vermittelt. Wenn ich mich richtig erinnere, war sogar eine Kontaktperson auf einem anderen Kontinent mit im Spiel. Ich glaube, es war Australien.
Zweimal waren Balthasar und ich schon verabredet – einmal am Luftbrückendenkmal und einmal im Volkspark Schöneberg am Goldenen Hirsch –, doch beide Male kam irgendwie Corona dazwischen. Ich hatte mir die Termine im Kalender eingetragen und dann, nachdem die Verabredungen ins Wasser gefallen waren, sorgfältig durchgestrichen (ich habe nämlich tatsächlich so einen Kalender aus Papier). Die dritte Verabredung habe ich nicht notiert. Vielleicht hilft es ja, habe ich gedacht. Vielleicht findet das Treffen ja genau deshalb statt, weil ich es nicht aufschreibe. Ich fragte Balthasar per WhatsApp, ob wir es nochmal mit dem Goldenen Hirsch versuchen wollen oder ob das Tier Unglück bringt. Aber Balthasar meinte, der Hirsch sei golden und gütig. Das hat mich beruhigt.
Um Punkt 12 Uhr stand ich wie vereinbart am Springbrunnen, nein, es war wahrscheinlich eher 11.56 Uhr. Balthasar war noch nicht da, hatte mir aber eine Nachricht geschrieben. Er wäre ein bisschen zu spät, wahrscheinlich so 20 Minuten. Nur, damit jetzt kein falscher Eindruck entsteht: Das fand ich ganz und gar unproblematisch! Ich hatte ja auch damit gerechnet. Mehr noch: Ich hatte es gewusst! Es gibt viele Momente, in denen es mir nichts ausmacht zu warten. Und das war so einer. Manchmal finde ich das sogar schön: gezwungen sein zum Nichtstun. Einfach nur stehen und schauen und nachdenken. Keine Wäsche aufhängen, keinen Tisch decken, keine Mails beantworten. In diesen zwanzig Minuten habe ich zum Beispiel immer wieder zum goldenen gütigen Hirsch hoch über meinem Kopf geschaut – so genau hatte ich den noch nie zuvor betrachtet.
Und dann kam Balthasar Tempo über die Wiese gestürmt! Ich wusste, wie er aussah (wegen WhatsApp und Internet), nämlich lässig und cool und crazy im besten Sinne. Und mir fiel auf, dass das Verrückteste an mir mein gelber Schal war. Manchmal stehe ich mit meiner Durchschnittlichkeit im besten Sinne im starken Kontrast zu außergewöhnlichen Leuten. Aber ich glaube, Balthasar ließ sich nicht davon beirren. Zumindest hat er sich nichts anmerken lassen.
Ich finde, wir hatten eine richtig gute Zeit. Anfangs war ich ein bisschen aufgeregt. Er: der Autor!!! Ich: die Möchtegern-Autorin! (Und dann auch noch der gelbe Schal!) Aber Balthasar war total nahbar, nicht etwa so: er – trippel, trippel – auf dem roten Teppich. Und ich – schlurf, schlurf – neben ihm durch die Schlammpfützen im Park. Nein, es war wirklich toll. Wir hatten einen Austausch, in dem er mir ganz viel von der schillernden Welt der Buchautoren und Verlage erzählt hat (die so schillernd nämlich gar nicht unbedingt ist, es sei denn, man heißt Cornelia Funke) und ich ihm ganz viel von der weniger schillernden Welt der Zwangserkrankten. Zum Beispiel wie es sich anfühlt, einen Waschzwang zu haben und beim Händewaschen verschiedene Seifen zu benutzen: die Flüssigseife am Waschbecken und dann das Duschgel an der Badewanne (und dann wieder Waschbecken, mehrmals, dabei auf die Seifenblasen achten, die sich bilden, um wirklich sicherzugehen, dass ich mir die Hände „richtig“ wasche, um etwas zu haben, das den banalen Vorgang des Händewaschens aus seiner Belanglosigkeit hebt, damit ich mich daran erinnern kann: Ja, ich habe mir gerade eben die Hände gewaschen, ich habe die Seifenblasen gesehen und meine Hände sind jetzt sauber!).
Außerdem haben wir uns gegenseitig unsere Buch-Projekte vorgestellt.
Wenn ich so über das Treffen nachdenke, fällt mir auf, dass ich irgendwie total gern auf Balthasars Seite der Parkbank gesessen hätte. Und zwar nicht etwa, weil er links gesessen hat und dem Goldenen Hirsch damit näher war, weil mehr Licht auf ihn gefallen wäre oder es sowieso und überhaupt Unglück bringt, rechts zu sitzen. Nein, ich wäre gern auch Autorin und nicht nur Möchtegern-Autorin. Balthasar hat mir mit seiner gütig-goldenen Art geraten, den Mut nicht zu verlieren und immer weiter zu schreiben und dann irgendwann eben ein ganzes Werk zu veröffentlichen. Aber ich frage mich: Wann ist irgendwann? Kommt es überhaupt je dazu?
Am liebsten würde ich das Verhalten der Literaturagenten mit magischem Denken und/oder Händewaschen beeinflussen: Seife mit Himbeer-Magnolie-Duft aus dem Spender drücken, dreimal aufschäumen, aus den Seifenblasen einen Hirsch formen, dann zweimal Happy Birthday singen (soll man ja ohnehin gerade machen, kann also so falsch nicht sein), nasse Hände abschütteln und dabei sämtliche Kontinente der Welt und fünf Sehenswürdigkeiten Berlins aufzählen, zum Beispiel das Luftbrückendenkmal.
Ich denke nochmal scharf nach. Wieso hatte es jetzt im dritten Anlauf mit dem Treffen mit Balthasar Tempo geklappt? Weil ich es nicht notiert hatte. Vielleicht sollte ich einfach aufhören, den Literaturagenten zu schreiben. Wenn das zum Erfolg führt, würde ich es sofort tun.