oder: Die Raupe zersetzt sich
von Eva
Als ich die Worte meiner lieben Freundin Sophie über ihren Pummelchen-Komplex las, regte sich Widerstand in mir. Warum? Wenn ich das in einen kurzen Blog-Eintrag quetsche, fühle ich mich dabei etwa so unwohl wie in einer Skinny-Jeans. Aber ich möchte etwas dazu schreiben, weil ich diesen Widerstand wichtig finde. Ich möchte den Pummelchen-Komplex von Sophie nicht nur mit den Worten wegwischen: „Du siehst doch toll aus.“ Denn ich weiß, dass das nichts hilft. Es kann sein, dass Sophies Komplexe nicht so schlimm sind. Vielleicht lebt sie ganz gut damit, so scheint es zumindest von außen. Aber ich kenne viele Frauen, bei denen Pummelchen-Komplexe dem ganzen Leben einen bitteren Geschmack verleihen. Dagegen möchte ich anschreiben.
Mit acht Jahren begann meine erste Diät. Ich aß einen Tag lang nichts, dann am nächsten das Dreifache. Essen wurde für mich also früh zum Thema. Meine Gedanken drehten sich den ganzen Tag darum. Ich fasse die Gedankenschleife mal kurz zusammen, die mich bis Ende 20 beschäftigte: „Ich bin zu dick. Ich esse zu viel. Wenn ich weniger esse, werde ich dünner. Wenn ich dünner bin, bin ich besser. Wenn ich besser bin, dann lieben mich mehr Menschen. Wenn mich mehr Menschen lieben, bin ich glücklich.“
Mit der Pubertät wurden die Gedanken und das Essverhalten schlimmer. Margarete Stokowski beschreibt in ihrem Buch „Untenrum frei“, wie ihr Körper während der Pubertät zur To Do Liste wurde. Ich glaube, das kennen viele. Alles an einem muss plötzlich bearbeitet werden. Die Haare, die Haut, die Muskeln und das Fett. Für Mädchen ist der Druck, schön zu sein, immer noch größer. Klar, auch Jungs wollen oder sollen schön sein. Heute vielleicht mehr als zu meiner Teenie Zeit in den 90ern. Aber für Mädchen hängt mehr an der Schönheit. Sie sind häufig dazu erzogen, anderen zu gefallen. Von den Eltern und von allem, was sie umgibt. Zeitschriften, Werbung oder Serien: Der männliche Blick auf Sexualität dominiert.
Ich habe den Druck von jungen Mädchen jedenfalls beim Heranwachsen rundum gespürt. Fast keine meiner Freundinnen blieb ohne Essstörung. Manche hungerten, andere kotzten oder halt beides. Ich zog es nie ganz durch und hangelte mich immer so von Diät zu Diät. (Dafür fühlte ich mich übrigens auch lange schlecht. Ich hatte nie eine richtige Essstörung.) Der Jojo-Effekt schlug zu, bevor ich das Wort überhaupt kannte. Die Diäten hatten zur Folge, dass ich dicker und dicker wurde. Die ständige Beschäftigung mit Essen führte zu Fressattacken und paradoxerweise auch dazu, dass ich Sport eher mied.
Eine Sportlehrerin stellte uns nach den Weihnachtsferien in der 8. Klasse mal in einer Reihe auf und erklärte, dass wir alle nun dank Plätzchen mindestens zwei Päckchen Butter mehr am Bauch hätten. Eine andere erklärte, Frau könne abends nur einen kleinen Naturjoghurt essen. Dann purzeln die Pfunde. Für mich war Bewegung und Sport also schon sehr früh mit meinem Aussehen und damit auch meinem Wert verknüpft. Beim Joggen fühlte ich mich wie die Bulldogge in der Almased-Werbung.
Leider blieb mein bedenkliches Körperbild weit über die Pubertät hinaus bestehen. Im Studium fing ich dann an Yoga zu machen. Ich wollte mich besser in meinem Körper fühlen und merkte, dass die Fokussierung auf Essen nichts bringt. Yoga stellte ich mir erträglich vor. Da muss Frau wenigstens nicht vor anderen rennen. Im besten Fall sind dabei auch alle auf sich selbst konzentriert. Kobra, Hund und Co halfen tatsächlich. Ich glaube, zum ersten Mal nahm ich meinen Körper als einen warmen Ort wahr, indem ich mich ein klein bisschen zuhause fühlen konnte.
Eine weitere gute Idee war es, auf große Spiegel zu verzichten. Ja genau, wie das Biest im Disneyfilm. So konnte der prüfende und leider abschätzige Blick meines Spiegelbilds mir nicht mehr den Tag versauen. Was soll das auch? Diese Fixierung auf das eigene Aussehen. Ich mein, ich weiß wie meine Klamotten an mir aussehen. Ich muss mich doch nicht jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gehe, von vorn bis hinten, von unten bis oben beäugen.
Nach dem Studium verbrachte ich viele Mittagspausen mit Kolleginnen zwischen 20 und 60. Sehr unterschiedliche Frauen waren das. Doch egal ob Journalistin, Sekretärin, Grafikerin, Biologin oder Personalerin, das Thema Essen und den Traum von der Bikini-Figur hatten sie gemeinsam. Der Salat hing mir langsam zu den Ohren raus. Je älter ich wurde, desto erstaunlicher fand ich es, dass dieses Thema so viel Raum einnimmt. Und was mich am meisten daran störte: Frauen bestärken sich gegenseitig darin.
Es sind nämlich nicht nur die Märchen vom Traummann, der uns begehrt, wenn wir schlank sind, die den Pummelchen-Komplex füttern. Es sind auch die Blicke und Kommentare anderer Frauen. Eine Freundin erzählte mir neulich, dass sie viele Komplimente bekommen hat, weil sie abgenommen hat. Sie ist schon immer sehr schlank gewesen. Jetzt hatte sie, mehr zufällig als gewollt, ein paar Kilos verloren. Das kommentierten vor allem andere Frauen. Sie lobten sie: „Du hast abgenommen. Das sieht aber schön aus.“ Und sie fragte sich unweigerlich: Warum bewerten andere Frauen meinen Körper? Warum ist dünner für viele immer gleich schöner?
(Randbemerkung: Ich weiß, dass auch viele dünne Frauen bewertet werden. Dickere Frauen meinen dann, das sehe ungesund aus oder anderen Mist.)
Neben Yoga, Spiegel wegwerfen und Büchern über Feminismus hat mich vor allem meine Tochter vom Abnehm-Wahn geheilt. Als kugelrunde Schwangere durch die Welt zu laufen, war für mich nicht immer zauberhaft. Und mehr als je zuvor wurde mein Körper jetzt für andere zum Objekt ihrer Kommentare. Manchmal war mein Bauch zu groß, manchmal zu klein, manchmal zu spitz und so weiter. Seltsamerweise war mir das aber meist egal. Ich spürte, wie ein Leben in mir wuchs. Ich fühlte, wie praktisch und funktional mein Körper ist.
(Bitte nicht falsch verstehen: Bestimmt muss Frau keine Schwangerschaft und Geburt durchmachen, um den eigenen Körper als praktisch zu begreifen. Mir hat diese Erfahrung geholfen. Andere machen bestimmt andere Erfahrungen, die ihnen helfen können.)
Jetzt kann ich es, ohne Baby im Bauch, fast jeden Tag wahrnehmen. Beim Atmen, Laufen und beim Essen. Ich habe Cellulite an meinen Beinen? Na und, sie tragen mich durch die Welt. Mein Bauch ist speckig? Na und, er schafft es, aus Nahrung Energie zu machen. Und so weiter. Manche nennen das: Body Neutrality. Einfach nicht so n Ding aus dem Aussehen zu machen, den Körper zu fühlen. Im Gegensatz zu Body Positivity ist das für alle, die ihre Dehnungsstreifen nicht schön finden können. Wir müssen unseren Körper nicht auf Instagram abfeiern, es reicht schon, ihn einfach als praktisch und funktional wahrzunehmen.
Indirekt war es also auch meine Tochter, die mein Abnehmen beendete. Meine Tochter ist es jetzt auch, die mich dazu motiviert, nicht wieder in alte Muster zu verfallen. Denn es ist echt schwer. Ein gutes Körpergefühl braucht mindestens so viel Training und Durchhaltevermögen wie ein Waschbrettbauch. Aber ich möchte ihr vorleben, dass wir uns auch in einem nicht perfekten Körper wohl fühlen können. Ich möchte, dass sie keinen Pummelchen-Komplex bekommt.
Zurück zu meiner lieben Sophie, die schrieb wie mühselig es für sie ist, das Gewicht zu halten oder noch etwas davon zu verlieren. Sie wünscht sich eine Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling. Ich kenne das Gefühl sehr gut. Aber ich habe irgendwann beschlossen, dass ich mich nicht verwandeln will. Die Raupe wird dabei übrigens von ihren Verdauungssäften zersetzt. Das braucht doch echt kein Mensch.
Ein schöner Beitrag, der eine wichtige Message transportiert! Und das neue Format des GÄSTEBUCHes gefällt mir sehr gut! 👍🏻 👍🏻 👍🏻
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