oder: Hoffen und bangen
Es gibt diese Momente kurz nach dem Aufwachen, in denen ich noch nicht richtig im Tag angekommen bin. In den etwa drei, vier Sekunden kommt mir die Welt vollkommen vor und das Leben einfach nur wunderbar. Früher ist dieses Gefühl oft den ganzen Tag geblieben. Seit einiger Zeit erlebe ich das anders. Fast jeden Tag steigt nach den Sekunden der Sorglosigkeit die Erkenntnis in mir auf, dass es einen schier unerklimmbaren Berg von Problemen von globaler Bedeutung gibt – und ich nicht weiß, was ich konkret dagegen tun kann.
Seit ungefähr zwei Jahren kommen diese bangen morgendlichen Gedanken mehr oder weniger ununterbrochen. Das hat mit Corona zu tun und den damit verbundenen Sorgen. Um meine Eltern, meine Schwiegereltern, die „vulnerablen Gruppen“. Um meinen Mann und meine Kinder, die ich über alles liebe. Um meine Freunde. Um mich. Die Weltbevölkerung. Ich hatte tausend Fragen im Kopf. Werden große Teile der Menschheit dahingerafft wie während der Spanischen Grippe? Wird es eine Impfung geben? Wenn ja, wann? Wird es zu Lieferengpässen kommen, wie es im Buch „Der Wal und das Ende der Welt“ beschrieben wird? Ich habe das Buch im Oktober 2019 gelesen und für großartige Fiktion gehalten.
Dazu Bilder von Militärfahrzeugen, die Särge in Bergamo transportiert haben, von Menschen, die in Krankenhäusern vom Rücken auf den Bauch gewendet und beatmet wurden, von anderen, die ihre finanzielle Lebensgrundlage verloren haben. Einmal, im Frühjahr 2020, haben sie in den Fernsehnachrichten einen Restaurantbesitzer in Rom befragt, dessen Lokal wegen Corona nicht mehr besucht wurde. Als ihm kurze Zeit nach Beginn des Interviews Tränen in die Augen stiegen, trat er aus dem Bild. Ich weiß nicht, warum ich mir ausgerechnet diesen Mann gemerkt habe, vielleicht, weil ich kurz davor war, mitzuweinen. Es ist eines von vielen Bildern, die ich nicht mehr vergessen werde. Wie gut, dass sie im Fernsehen keine trauernden Angehörigen gezeigt haben.
Vor zwei, drei Wochen habe ich so etwas wie einen Hoffnungsschimmer am Horizont gesehen: Die Corona-Fallzahlen sind zwar immer noch hoch, aber zwischenzeitlich waren sie sogar gesunken. Ich hatte begonnen, an ein Ende der Pandemie zu glauben. Mein Mann, meine Töchter und ich – wir alle hatten Corona. Auch meine Schwiegereltern, viele Freunde. Die morgendlichen Momente der Unbeschwertheit hätten wieder länger andauern können, vielleicht – aller drängenden Fragen zum Trotz – auch mal einen ganzen Tag lang.
Am Morgen nach dem Angriff auf die Ukraine habe ich nicht mehr an Corona gedacht.
Wieder sehe ich Bilder, die mich erschrecken, Bilder, die ich nicht mehr vergessen werde. Eine ukrainische Dolmetscherin, die während der Fernsehschalte zu weinen beginnt, weil sie gerade erfahren hat, dass ihr Sohn in den Krieg ziehen wird. (Lebt er noch?) Wenn es mir schon so schlecht mit einem Krieg geht, der rund 1.700 Kilometer entfernt tobt, wie sieht es denn dann für die Menschen aus, die ihn erleben müssen?
In den 80er-Jahren war ich ein Kind. Ich habe in West-Berlin gelebt, im amerikanischen Sektor. Manchmal fühlte sich das während des kalten Krieges an wie auf einem Pulverfass zu sitzen. Wettrüsten und Atomwaffen spukten im Hintergrund meiner Kindheit herum, auch der Reaktorunfall in Tschernobyl im April 1986, da war ich sieben Jahre alt. Ein Freund von mir erzählte neulich, dass damals ein Spielplatz in unserer Nähe zwei Jahre lang mit rot-weißem Flatterband abgesperrt war. Und ich kann mich dunkel daran erinnern, wie ich einmal eine große Plastikkiste mit Spielsachen gepackt habe, um vorbereitet zu sein, falls ein Krieg ausbricht.
Neulich ist mir eine Liedzeile in den Sinn gekommen: „In 15 Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm“. Ich wusste bis vor kurzem weder, dass das Lied von Udo Lindenberg ist, noch, dass es harmlos weitergeht: „Sie lassen ihre Panzer im Parkhaus stehen und wollen im Café Kranzler die Sahnetörtchen sehen“. Mich hat das Lied immer eher beängstigt. Was würde denn passieren, wenn die Russen auf dem Kurfürstendamm sind? Der war ja nicht so weit weg von unserer Wohnung. Ich hätte besser auf den ganzen Text hören sollen.
Das alles habe ich neulich meinen Töchtern erzählt: sowohl von meiner Plastikkiste als auch von dem Lied. Es hat sie sehr gerührt. Die drei wirken gerade nicht allzu besorgt, also zumindest nicht um sich. Deutschland scheint ihnen sicher zu sein. Zu den Worten Nuklearwaffen und Atomreaktor scheinen sie nicht den Bezug zu haben, den ich aus meiner Kindheit kenne. Und mein Mann und ich strahlen wohl Ruhe aus. Wenn mir bei den Abendnachrichten die Tränen in die Augen steigen, blinzele ich sie heimlich weg.
Die Kleine singt in der Schule für den Frieden, zieht sich in Blau und Gelb an, versucht mit ihrer großen Schwester mit einer Sprachlern-App Ukrainisch zu lernen. Die Große saugt die Nachrichten in sich auf und demonstriert mit meinem Mann gegen den Krieg. Die Mittlere sagt wenig zu all dem, vielleicht hat sie die größten Sorgen.
Und ich? Ich hätte es nicht für möglich gehalten, an diesen Punkt zu gelangen oder zurückzukehren: Der Westen und der Osten, diesmal nur Russland, stehen sich feindselig gegenüber? Das hatten wir doch alles schon. Und es war damals schon kaum auszuhalten. Wer hat die tödlichsten Gewehre, die größten Panzer, die alles vernichtende Atomstreitkraft?
Ich habe in den vergangenen Wochen immer wieder Zahlen dazu gelesen, wie viele Menschen gestorben sind: an Corona oder jetzt im Krieg. Alte, Junge, Soldaten, Zivilisten, darunter Kinder. Eine Zahl kann nicht vermitteln, welches Leid mit dem Tod jeder einzelnen Person verbunden ist. Jemand lebt nicht weiter, kann seine Träume nicht verwirklichen, seine Kinder nicht aufwachsen sehen oder nicht mehr mit seinen Enkeln spielen, wird anderen entrissen. Zurückbleiben Ehefrauen und Ehemänner, Partner, Kinder, Eltern, Onkel, Tanten, Freunde und Bekannte. Alle betrauern den Tod. Alle müssen diese Leerstelle in ihrem Leben ertragen.
Fühlt sich jemand auch manchmal so hilflos wie ich?
Liebe Sophie, ich kann gut nachvollziehen was du fühlst. Mir geht es ganz genau so. Corona hat mich erschreckt, aber schien wie eine „böse“ Laune der Natur. Tschernobyl war wie eine Hybris und ein nicht zu übersehenes Warnzeichen. Kriegsdrohungen gab es in meinem Leben ständig. Zu viele sinnlose Tote. Aber es gibt auch Solidarität, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Und Beiträge wie in deinem Blogg. Danke dafür! Du bist nicht alleine. Liebe Grüße vom „Follower“
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Schlimm, dass wir wieder an einem Punkt angelangt sind, von dem wir dachten, wir hätten ihn längst hinter uns gelassen… Danke für diese Zeilen, du sprichst vielen aus dem Herzen!
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Gelesen und Tränen weggeblinzelt! Und ja, ich fühle mich genauso hilflos wie du.
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Hi Sophie,
uns geht es genauso. Es scheint auf dieser Welt gerade vieles aus den Fugen. Trotzdem: Wie uns Krisenzeiten auch durchschütteln, bieten Sie auch Chancen. Corona hat zum Beispiel das Thema HomeOffice/ WorkLifeBalance um Jahre beschleunigt. Und selbst der schreckliche Krieg in der Ukraine kann Chancen bieten. Zum Beispiel weg von Abhängigkeiten von fossilen Energien, hin zu mehr Klimaverträglichkeit. So schwer es die Tage manchmal fällt, lasst uns versuchen positiv zu bleiben!
Ich freue mich auf jeden Fall immer, was von Dir zu lesen.
Viele Grüße vom Bodensee!
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Danke für die lieben Worte. Klimaverträglichkeit ist ein gutes Stichwort, weil das ja wieder so ein drängendes Problem ist, das uns in der nächsten Zeit beschäftigen wird und muss!
Liebe Grüße aus Berlin!
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