Zum ersten Mal: Viggo

oder: Living a Boy’s Adventure Tale

Die Kristallkugel zersprang zwischen seinen Fingerspitzen in hundert messerscharfe Scherben. Sie schnitten ihm die Finger auf, die Haut von der Hand, rieselten den Arm hinab und hinterließen tiefe, blutige Furchen. Der Schmerz durchfuhr ihn mit einer solchen Wucht, dass er taumelte, den Halt unter seinen Füßen verlor und wie gelähmt von dem dicken Ast stürzte, auf dem er eben noch gestanden hatte. Dumpf war der Aufprall auf dem moosigen Waldboden, kalt und feucht die Erde unter seinem Körper, Blut, so viel Blut, das letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor.

***

Um ihn herum war es stockfinster. Viggo streckte seine Hände aus, fühlte die feuchten Steine der Brunnenwand unter den Fingern und Moos, das die Wand wie ein Fell bedeckte. Ein muffiger Geruch ging von den Steinen aus und dem Jungen stockte der Atem. Er war pitschnass, seine Kleider klebten an seinem schmächtigen Körper, sein hellblondes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Nach seinem Sturz hatte er sich aufgerappelt und stand nun bis zu den Knöcheln im Wasser, das sich in dem alten, stillgelegten Brunnen gesammelt hatte.

Er hatte beim verlassenen Bauernhaus gespielt, ganz allein, ohne seine Kameraden. Er liebte das. Wenn er allein war, konnte er alles sein: so stark wie ein Ritter, so flink wie ein Dieb, so mächtig wie ein König. Oder so zart wie ein Schmetterling. Seine Mutter wusste, dass er oft in der Nähe des alten Hofes spielte. „Nur zum Brunnen darfst du nicht gehen. Versprich mir das“, hörte er sie sagen. Dafür war es jetzt zu spät. Die Angst schoss in ihm hoch, machte am Scheitelpunkt kehrt und ergoss sich wie eine warme Flüssigkeit über seinen Kopf und Körper. „Mama“, flüsterte er zitternd. Ihm fiel nichts Besseres ein. Und noch einmal: „Mama.“

Beim Sturz hinab in den Brunnen hatte er sich verletzt. Er spürte die Beule an der Stirn, die aufgeschürften Beine. Tränen schossen ihm in die Augen und aus Leibeskräften schrie er: „Maaaaamaaaaa!“ Dann sank Viggo auf die Knie und begann hemmungslos zu schluchzen.

***

Die Beeren schauten verlockend aus: rund und prall, die kleinen braunen Kerne schimmerten durch die glänzend rote Haut, die Sonne spiegelte sich in den reifen Früchten. Siri merkte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Johannisbeeren, dachte das Mädchen und freute sich über den Fund. Reife, runde Johannisbeeren. Mit seinen zierlichen Fingern griff es in den Busch, pflückte rasch ein paar Früchte, die in Scharen an den Rispen hingen, und steckte sie sich in den Mund. Sie schloss die Augen und wandte ihr Gesicht der Sonne zu, genoss die Wärme, genoss den süß-säuerlichen Geschmack auf ihrer Zunge. Wenn doch jeder Moment so schön wäre wie dieser!

Siri war schon eine ganze Weile durch den Wald gestromert, hatte mit einem langen Stock unsichtbare Drachen in die Flucht geschlagen, mit ihrem Messer drei Pfeile für ihren Bogen geschnitzt und zuckersüße Himbeeren und Brombeeren genascht. Um die schwarz glänzenden Früchte der Tollkirsche hatte sie jedoch einen weiten Bogen gemacht. Sie wusste, dass sie giftig waren und sogar den Tod bringen konnten. Sie kannte sich aus in der Natur. Sie war oft hier. Und oft allein.

Sie hielt ihre Augen noch immer geschlossen, die Sonne schien rot hinter ihren Lidern. Siri dachte an ihren Vater, den sie vermisste. Seine Geschäfte führten ihn durchs ganze Land, auch jetzt wieder. Während sie ihr Gesicht der Wärme entgegenstreckte und die Sonnenstrahlen wie ein Prickeln auf der Haut fühlte, hielt sich ihr Vater in Ladengeschäften und Hinterzimmern auf, die sich Siri so dunkel vorstellte wie einen stillgelegten Brunnenschacht. Die wenige Zeit, die sie mit ihrem Vater verbrachte, genoss sie dafür umso mehr. War er zuhause, zogen sie gemeinsam durch die Wälder Karmoriens. Siris Vater hatte ihr erklärt, wie die Tiere des Waldes lebten, was sie fraßen, wie sie ihre Jungen aufzogen. Er hatte sie viel über Pflanzen gelehrt und ihr jene gezeigt, die Menschenleben retten konnten oder auch vernichten. Er hatte sie vor giftigen Pilzen gewarnt und ihr aufgegeben, einen Bogen um die Fallen der Pelzjäger zu machen. Er war klug und hatte auf jede Frage seiner Tochter eine Antwort, so dass er ihr fast allwissend erschien.

Sie hingegen war ein Kind, kaum acht Jahre alt. In ihrer kindlichen Sorglosigkeit war sie nicht unfehlbar, und obwohl sie das Gefühl hatte, ebenso wie ihr Vater alles zu wissen, war sie dem Irrtum manchmal erschreckend nahegekommen, diesmal zu nahe. Johannisbeeren, hatte sie gedacht. Doch es waren keine. Das Gift hatte bereits angefangen zu wirken.

***

Die Schmerzen ließen sofort nach, als das Kleine das Licht der Welt erblickte. Oder vielmehr das Dunkel, denn die Nacht war tiefschwarz und die flackernden Kerzen standen in einiger Entfernung und beleuchteten den Raum nur schwach.

Die Geburt war schwer gewesen, stundenlang hatte die Frau in den Wehen gelegen, hatte sich gewunden, geschrien und geweint. Die Strapazen einer Geburt blieben auch einer Königin nicht erspart. Als die Schmerzen am Größten waren, hatte sie alle verflucht: die Hebamme, den Leibarzt, ihren Mann. Nun lag ein mildes Lächeln auf ihrem Gesicht, das sie voller Zuneigung an das kleine Wesen auf ihrer Brust schmiegte. Blau angelaufen war es gewesen, als es auf die Welt gekommen war. Die Nabelschnur hatte ihm um den Hals gelegen und hätte es beinahe stranguliert. Ein kleines Wesen auf dem Weg ins Leben, dem Tode so nah. Wie eng beides beieinander liegt, dachte die Königin.

„Hat denn schon jemand nachgeschaut, ob mir ein Thronfolger geschenkt wurde?“, riss sie der König aus ihren Gedanken. Eilfertig lüftete die Hebamme die weichen Tücher, in die das Kind gewickelt war. „Es ist ein Mädchen.“

Ein Mädchen, dachte die Königin glücklich. Noch eines. Das erste war gerade fünf Jahre alt. Die Königin lächelte bei dem Gedanken an ihre Töchter, die große im königlichen Palast in ihrem Bettchen schlafend, die kleine hier auf ihrer Brust. Als sie ein plötzlicher Schwindel überkam, schloss sie ihre Augen. Vielleicht ahnte sie es in diesem Moment: Sie würde die beiden nicht aufwachsen sehen. 

***

Der ewige Zweite. So würde er sich nennen. John musste der Wahrheit ins Auge blicken, die Rangfolge schweren Herzens akzeptieren. Er würde seinem Bruder nie das Wasser reichen können, so sehr er sich auch bemühte.

John war zwar mutig, ein Abenteurer, ein guter Reiter, noch besserer Schwert- und Degenkämpfer, geschickt und wendig, stark und gewitzt. Aber sein Bruder Richard war mutiger und stärker, ein exzellenter Reiter, gewandt mit Stich- und Schusswaffen und nicht nur ein Abenteurer, sondern ein Abenteurer, den alle bewunderten.

John, der ewige Zweite, war klug, er sprach mehrere Sprachen, drei davon fließend, er löste mathematische Rätsel ohne Mühe und spielte Dudelsack und Laute. Sein Bruder Richard aber wurde als Genie bezeichnet, sprach vier Sprachen fließend und ohne Akzent und spielte nicht nur Dudelsack und Laute, sondern darüber hinaus auch Flöte und Cembalo. Außerdem wusste er alles über die Geschichte des Reiches und der Nachbarländer und war ein begnadeter Maler.

Johns Schönheit war legendär. Er war mittelgroß und schlank, dabei muskulös. Er hatte dunkelblonde Haare, die er der Mode entsprechend etwas länger trug, das Deckhaar oft im Nacken zusammengefasst. Er hatte blaue Augen, eingerahmt von dunklen Wimpern, und er trug Bartstoppeln, die seinem Aussehen etwas Verwegenes gaben. Aber es war Richard, der ihn auch in diesem Punkt überflügelte und in seiner Schönheit ohne Konkurrenz war – gleichermaßen begehrt von Frauen wie von Männern.

Vielleicht hätten John die Stärken des Bruders nicht so sehr getroffen, wenn er selbst feige und schwach, hässlich und ohne Talente gewesen wäre. Aber selbst so begnadet zu sein und dennoch nie hervorzustechen – das war schwer zu ertragen, das schmerzte ihn tief. Der ewige Zweite. Für John war es wie ein Fluch. Sein Bruder hatte all das, was er hätte haben wollen. Selbst seine Geliebte hatte er vor langer Zeit an Richard verloren: die wunderschöne, engelsgleiche Ebba, die einzige Frau, die er je geliebt hatte. Die einzige Frau, die ihn je geliebt hatte.

Es war nicht leicht für jemanden seines Standes, eine passende Frau zu finden. Die Politik stand im Vordergrund, die Liebe trat zurück, falls es sie überhaupt je gab. Er jedenfalls hatte sie empfunden und spürte sie noch immer. Doch da war etwas, das John noch mehr zusetzte als der Verlust seiner Geliebten. Er schämte sich dafür, dass auch für ihn Macht und Herrschaft mehr zählten als Gefühle. Aber es war vor allem die Tatsache, dass sein Bruder, der ewige Erste, vor kurzem den Thron bestiegen hatte, die ihm das Leben unerträglich machte.

1 Kommentar zu „Zum ersten Mal: Viggo“

  1. Es war eine sehr gute Idee von dir nach dem „Eiskrem-Wettbewerb“ nun auch den „Viggo“ sozusagen öffentlich zu machen. Ich habe mit viel Freude die ersten Seiten gelesen, hoffe, dass sich noch viele weitere Leser finden – vielleicht ist ja sogar ein Verleger dabei.

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