GÄSTEBUCH: Zum ersten Mal: Um Hilfe bitten

oder: Druck im Kessel

von Sam

Ich sitze auf einer grünen Samtcouch an einem Sonntagnachmittag, ein Freund erklärt mir, welche seiner Pflanzen ich wie zu pflegen habe, während er sechs Wochen in den USA verbringen wird. Ich kann aber nicht mehr zuhören, denn er hat mich vor fünf Minuten gefragt, ob ich denn auch schon meinen Stromanbieter gewechselt habe. Habe ich nicht. Weil ich mich um nichts kümmere, was nicht dringend ist. Die dringenden Angelegenheiten verbrauchen so viel Energie, dass ich alles andere liegen lasse.

Ich sage „einen Moment, ich muss kurz heulen“ und fange an zu heulen. Um dringende Angelegenheiten kümmere ich mich nämlich auch nicht. Ich habe seit vier Monaten meinen Briefkasten nicht aufgemacht. Gerade weil ich weiß, dass wichtige Post darin auf mich wartet. Wichtige Post, um die ich mich sofort nach dem Öffnen kümmern sollte. Wann immer Steuern, Rechnungen und Versicherungen erwähnt werden, schlägt mein Herz schneller. Ich schauspielere meine Panik weg und wechsle das Thema. „Ja, ja, hab‘ ich schon gemacht.“ Mit jeder Woche, die seit dem letzten Öffnen vergeht, steigt der Druck in meinem Kessel. Vertieft sich das Loch in meinem Bauch, durch das mein Herz sinkt.

Die Nächte häufen sich, in denen ich vor dem Einschlafen an nichts anderes denken kann als an den Briefkasten. „Es ist nur schlimm, wenn du dich nicht drum kümmerst“. Aber jetzt habe ich mich schon lange nicht gekümmert. Also kann alles, was in der Box auf mich lauert, schlimm sein. Es geht gar nicht anders.

Zum Beispiel ein Brief vom Gerichtsvollzieher für eine Rechnung, die ich vergessen habe. Mahngebühren, die all mein Erspartes kosten werden. Dann werde ich die hohen Heizkosten nicht bezahlen können. Eine Kündigung meiner Wohnung. Dann werde ich keine neue finden und muss wieder zu meinen Eltern ziehen.

Während ich heule und mein Freund mich umgeben vom Grün von Pflanzen und Couch tröstet, erzähle ich ihm zum ersten Mal, wie schlimm dieses Problem wirklich ist. Und welche Briefe ich befürchte. Und welche Ämter und Unternehmen ich seit Monaten ghoste. Während ich spreche, wird mir klar, dass ich es nicht länger herauszögern kann. Der Druck ist unaushaltbar. Ich muss ihn entweichen lassen. Und das geht nur, wenn ich mich durch die Scham kämpfe.

„Diese Themen sind für alle schwierig“ – das macht es nicht besser. Denn dann schaffen es ja alle anderen, obwohl es ihnen schwerfällt. Warum kann ich es dann nicht? Die Institutionen, denen ich nicht antworte. Die Mahnungen, die sich stapeln. Das Geld, das ich mit vollem Schwung aus dem Fenster werfe. Wer macht denn sowas? Es ist unverantwortlich. Unerwachsen. Erbärmlich.

In meinem Arbeitsalltag organisiere ich, argumentiere ich, erledige ich. Ich kann Unterlagen ausgefüllt und sortiert mit Geflüchteten im Ausländeramt präsentieren und nebenher überzeugend übersetzen. Ich schicke meiner Mutter Formulare für eine Vorsorgevollmacht. Weil sowas wichtig ist. Ich wohne seit 12 Jahren in Berlin und meine Bank ist noch die Kreissparkasse meiner Heimatstadt. Weil ich es nicht schaffe, mich um einen Wechsel zu kümmern.

Bevor ich diesmal den Briefkasten öffne, denke ich an die feste Umarmung eines guten Freundes. Der Stapel Briefe, der mir entgegenfällt, ist größer als je zuvor. Viele sind von denselben Absendern – also habe ich besonders großen Mist gebaut. Bisher lief es so: Ich reiße alles schnell auf, mache weinend online Überweisungen, während mein Herz rast, bleibe den Rest des Tages im Bett und warte dann wieder ein paar Monate. Der Prozess ist so schlimm, das kann ich mir ja nicht ständig antun, oder?

Diesmal weiß ich: Ich kann nicht mehr. Ich kann das nicht allein lesen. Ich kann diese Briefe nicht allein öffnen. Ich kann das nicht immer wieder durchleben. Und dann mache ich das, was ich mir geschworen hatte, nie zu tun, weil es viel zu peinlich ist: Ich rufe einen Freund an und bitte um Hilfe. „Es würde mir helfen, wenn du morgen zu mir kommst und alles mit mir aufmachst.“ „Na klar! Wann soll ich kommen?“ Als hätte ich zum Kaffee eingeladen.

Mein Freund ordnet alle Briefe nach Thema und Datum. Jetzt muss ich von einem Absender nicht sechs Mahnungen durchlesen, sondern nur eine, die neueste. Ich atme tief durch und tippe eine IBAN nach der anderen ein. Der schlimmste Brief (denn ja, so schlimm ist es) droht mir mit einer „kostenpflichtigen Türöffnung“. Ich überweise die 200 Euro und schluchze für ein paar Minuten in die Schulter meines Freundes. Wir sitzen auf dem Boden, umringt von leeren Briefumschlägen. „Du kannst bei mir schlafen, bis du weißt, dass das Geld angekommen ist!“ Ich musste nicht mal danach fragen. Wir bestellen zum Abendessen vietnamesisch und hören zum Einschlafen ein Hörspiel.

Das war das letzte Mal. So voll wird mein Briefkasten nie wieder sein.

2 Kommentare zu „GÄSTEBUCH: Zum ersten Mal: Um Hilfe bitten“

  1. Das ist sicher ein sehr extremes Beispiel, das Sam uns hier so ergreifend erzählt. Aber das Gefühl, im Job alles zu können und zuhause (das Bürokratische betreffend) nichts, kenne ich gut. Von mir selbst. Ich drücke Sam die Daumen, dass die positive Erfahrung, sich helfen zu lassen, vielleicht sogar hilft, das Problem in den Griff zu kriegen.

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