Zum ersten Mal: Lieblingskind

oder: Gleich und Gleich gesellt sich gern?

Vergangene Woche stellte Supergirl beim Abendessen eine steile These auf: Belle sei das Lieblingskind meines Mannes, sie sei mein Lieblingskind. Für einen Moment entstand eine ohrenbetäubende Stille, alle Familienmitglieder mussten sich erst einmal sammeln. Doch schon den Bruchteil einer Sekunde später geriet Baby Boss ins Kreuzfeuer unserer Blicke. Sie selbst schaute erst betroffen auf ihren Teller, dann in die Runde. „Und ich?“, fragte sie gespielt beleidigt: mit vorgeschobener Unterlippe und treuherzigem Bernhardiner-Blick. „Wessen Lieblingskind bin ich?“

Natürlich war das alles nicht ganz ernst gemeint. Supergirl sagt gern Dinge, die aufrütteln, schleudert im Vorbeigehen provokante Thesen durch die Wohnung. Auch deshalb holte ich direkt zum Konter aus. „Vielleicht ist es ja andersherum“, sagte ich. „Vielleicht hat Belle Papi am liebsten und du mich.“ „Ja, das stimmt“, sagte Supergirl augenzwinkernd, aber nur, um meinen Mann zu ärgern. Belle stritt meine Behauptung ab. Baby Boss suchte weiterhin ihren Platz in dieser Diskussion, vielleicht in unserer Familie.

Supergirl fuhr fort: „Wir sind uns auf jeden Fall viel ähnlicher: du und ich“, sagte sie zu mir. „Und Belle ist mehr wie Papi.“ Auf den ersten Blick hat sie damit wahrscheinlich sogar recht. Aber das macht sie noch lange nicht zu meinem Lieblingskind (auch wenn sie das vielleicht gern hätte).

Mit dem Ende des Abendessens kam die Unterhaltung zum Erliegen. Bei mir wirkte das Thema noch eine Weile nach. Es ist zwar keine Frage, die ich mir stelle: ob ich ein Lieblingskind habe. Denn ich kenne die Antwort ohnehin. Sie lautet „nein“. Aber ich fand Supergirls Ausführungen dazu interessant. Ist es so, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwei Personen besonders zusammenschweißt? Wenn sich die eine in der anderen wiedererkennt? Oder kommt es dann vielleicht gerade zum Konflikt? Dann nämlich, wenn einem nicht gefällt, was das Spiegelbild zeigt?

Meine Töchter sind mir nicht alle gleich ähnlich. Oder – genauer gesagt – nicht in den gleichen Punkten ähnlich. Manchmal habe ich einen leichteren Zugang zu der einen, dafür aber in anderen Dingen mehr Gemeinsamkeiten mit der anderen. Ich würde so weit gehen zu sagen: Unterm Strich habe ich mit jeder von ihnen in etwa dieselbe Schnittmenge (meine Töchter untereinander übrigens nicht). Das ist für mich eine sehr interessante Erkenntnis. Ich habe sie erst gewonnen, weil Supergirl das Thema auf den Tisch gepackt hat. Denn wenn ich nur oberflächlich auf meine Töchter schaue, könnte auch ich den Eindruck gewinnen, Supergirl sei mir am ähnlichsten.

Sie trifft sich oft mit Freundinnen, pflegt ihre sozialen Kontakte, ist gern unterwegs, ein Hans Dampf in allen Gassen. Sie ist klug und sportlich (viel sportlicher als ich, aber ich würde es trotzdem noch als Gemeinsamkeit durchgehen lassen). Supergirl meint, wir würden uns auch ähnlich sehen. Ich hoffe, sie hat recht, denn Supergirl ist sehr hübsch. Neulich hat sie mir auf einer Zehn-Punkte-Skala fürs Aussehen eine neun oder neun Komma fünf gegeben. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich war sehr geschmeichelt. Vielleicht war es auch nur ein weiterer Beweis für die These, dass Liebe blind macht. Worin wir uns unterscheiden: Supergirl ist selbstbewusst und präsent, hat ihren eigenen Kopf und einen starken Willen. Das finde ich einerseits großartig, andererseits ist es nicht immer einfach, damit umzugehen. Man muss mit Gegenwind rechnen, wenn man etwas von ihr möchte, manchmal mit einem Orkan.

In diesem Punkt zum Beispiel ist Belle ganz anders – und mir viel ähnlicher. Sie mag es harmonisch und steckt grundsätzlich zurück, um dieses Ziel zu erreichen. Sie ist eher zurückhaltend und schüchtern, verantwortungsbewusst, verlässlich und ausgleichend, zielstrebig und klug. Auch darin ist sie mir ähnlich, wobei sie noch schüchterner ist als ich und sehr viel klüger. Im Gegensatz zu Supergirl und mir reicht ihr eine kleine peer group. Und das ist vielleicht auch schon der größte Unterschied, den ich zwischen uns sehe.

Baby Boss und ich ähneln uns äußerlich kaum. Seit ihrer Geburt ist sie das Ebenbild meines Mannes, nur ohne Bart und mit blonden Haaren. Sie braucht die große Bühne für ihren großen Auftritt (manchmal auch die ganz große Bühne für ihren ganz großen Auftritt). Sie ist verträumt und lässt den lieben Gott gern mal einen guten Mann sein. Sie hat ein sonniges, freundliches Gemüt, lacht viel, kann aber auch mal aufbrausen. Ich hingegen hasse die große Bühne wie die Pest, ich bin nicht verträumt, sondern immer voll da. Und leider kann ich den lieben Gott auch nur in den seltensten Fällen einen guten Mann sein lassen. Aber ich bilde mir ein, ein freundliches Gemüt zu haben. Und manchmal – ganz selten! – bin ich aufbrausend. Außerdem sehe ich in Baby Boss eine Kreativität und Fantasie, wie ich sie von mir kenne. Sie hat sogar angefangen, ein Buch zu schreiben.

Ich frage mich gerade, ob jemand anhand der Beschreibungen meiner Töchter ihre Sternzeichen erraten möchte. Ja, du da hinten mit dem Wallekleid und der Kristallkugel? Richtig, Belle ist Waage, Supergirl Wassermann und Baby Boss Widder! Achtung: Widder!!!

Vorgestern habe ich Belle und Baby Boss einzeln dazu befragt, ob sie auch denken, Supergirl sei mein Lieblingskind. Beide haben verneint, was mich beruhigt hat. Ich habe kein Lieblingskind und ich möchte auch nicht, dass es so wirkt. Supergirl habe ich nochmal gefragt, was sie zu ihrer Behauptung veranlasst hat. Da ist sie zurückgerudert und hat gesagt, dass sie es gar nicht so gemeint habe. Wir seien uns eben besonders ähnlich. „Wir lassen uns beide nicht unterkriegen“, sagte sie. Und: „Wir lassen uns beide nicht gern etwas sagen.“ Die Aussagen fand ich interessant. Ich erlebe mich eher als jemanden, der sich wegduckt, um die Harmonie nicht zu gefährden. (Hat irgendwer eine Idee für mein Sternzeichen?)

Vor langer Zeit habe ich einen Artikel gelesen, in dem eine Frau von der Liebe zu ihren Kindern erzählte. Sie schrieb, dass sie alle ihre Kinder gleich, aber jedes Kind auf seine ganz besondere Art lieben würde, passend zum jeweiligen Charakter. Es hat mich damals sehr berührt, und ich konnte nachvollziehen, was sie meinte.

Mir geht es genauso. Belle liebe ich leise, Supergirl stürmisch, Baby Boss verträumt – aber alle von ganzem Herzen. Ich freue mich, wenn ich Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und mir entdecke. Aber ich freue mich mindestens ebenso sehr über Unterschiede.

9 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Lieblingskind“

  1. Das ist doch das Tolle an Kindern – dass jeder seinen eigenen Charakter mitbringt und man gar nicht in die Verlegenheit kommt, Langeweile zu verspüren angesichts der ganzen Unterschiede und Stimmungen. Danke für das Teilen deiner Gedanken, war mal wieder sehr interessant!

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    1. Danke, lieber zeitgeiststories, für deine wohlwollenden Worte. Ja, Langeweile kommt bei uns nicht auf! Mein Mann ist übrigens auch total wichtig für den Mix von Persönlichkeiten, den wir hier zuhause haben. Das wollte ich nicht unerwähnt lassen. 😉

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  2. Liebe Sophie, dein Blog hat mir wieder sehr gut gefallen. Die Mini-Porträts der drei Schwestern und die Frage nach deren Ähnlichkeiten und Unterschieden hat mich zum Nachdenken angeregt. Die drei könnten gut die Hauptpersonen in deinem „neuen Buch“ über liebevolle und spannende Ferienerlebnisse, wie im „Eiscreme Wettbewerb“ sein.
    Es grüßt der „Follower“

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    1. Lieber Follower, du hast es genau erkannt: Ich lasse mich immer wieder gern und oft von meinen drei Töchtern inspirieren. Nicht nur, was den Blog betrifft, sondern auch, wenn es um meine Kinderbuchprojekte geht. Momentan arbeite ich an einer neuen Geschichte. Vielleicht gebe ich hier bald mal einen Einblick.
      Herzliche Grüße! Sophie

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    2. Jaaa, ein Buch von Sophie! Ich bin mir ganz sicher, dass das ganz viel liebevollen, spannenden und unbedingt lesenswerten Inhalt bietet…für Kinder und Erwachsene :-). Liebe Grüße von Anja

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      1. Danke, du Liebe! Ich habe schon über 80 Seiten geschrieben. Und ich glaube, dass es insgesamt rund 180 bis 200 Seiten werden. (Ich habe mir vergangene Woche eine Kapitelübersicht gemacht, das müsste passen.) Viele liebe Grüße!!!

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      2. Wow, toll! Ganz viel Spaß am Schreiben….und dann werden selbstverständlich die Daumen für eine Veröffentlichung gedrückt!

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  3. Liebe Sophie, ganz wie Dein Name, bist Du unendlich weise, und weißt Deine Kinder zu nehmen, wie sie sind. Das ist wahre Liebe! Herzliche Grüße

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    1. Lieber Norman, vielen Dank für deinen total netten Kommentar! Ich habe mich riesig gefreut! Und es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich ihn freigegeben und beantwortet habe. Gestern saßen wir länger als geplant im Auto (gefühlt den ganzen Tag…) – auf unserer Rückreise aus Amsterdam. Herzliche Grüße zurück!

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