GÄSTEBUCH: Immer wieder: Schlaflose Nächte

oder: Von Prinzen und Gespenstern

von Anke

Die Vorstellung, nachts um halb vier wach zu liegen und nicht einschlafen zu können, war für mich lange Zeit kein Albtraum, sondern eine ausgesprochen positive Erinnerung. Mit siebzehn durfte ich in der Diskothek endlich zur Nacht-Boutique bleiben. Die begann um 23 Uhr, nachdem die jüngeren Teenager vor die Tür gesetzt worden waren. Dann versprach der Abend mit einer langsamen Runde interessant zu werden, und im Sommer kamen wir erst im Morgengrauen nach Hause. Ehe ich im Bett lag, zwitscherten längst die Vögel. Wenn ein Prinz ein Wort mit mir gewechselt oder mich gar zum Tanz gebeten hatte, klopfte das Herz zu schnell zum Schlafen. Die Gedanken drehten sich im Kreis. Vor lauter Aufregung und Vorfreude. Verliebt, oder nur verguckt? Wird er morgen plötzlich vor der Tür stehen? Oder sehe ich ihn erst beim nächsten Mal wieder? Wenn ich ehrlich bin, gab es auch so manche schlaflose Nacht, in der ich aus Liebeskummer ins Kissen heulte. Aber wie das so ist mit den Erinnerungen: Die trüben verblassen, die rosigen schimmern und glänzen für alle Ewigkeit.

Heute ist meine älteste Tochter sechzehn und auf der Suche nach ihrem Traumprinzen. Ich fiebere insgeheim mit, auch wenn es gern noch etwas dauern darf, bis hier bei uns ein Schwiegersohn in spe ein und aus geht. Im Gegensatz zu mir Ende der 80er-Jahre liegt sie in ihren schlaflosen Morgenstunden nicht einfach wach und fantasiert, sondern starrt aufs Handy. Wird er sich melden? Das Erste, was beim Anbändeln unter Jugendlichen heute passiert, ist das Austauschen des Instagram-Accounts. Folgt er mir? Schreibt er was dazu? Ich beneide sie nicht. Ich fürchte, die Enttäuschung ist allgegenwärtiger als bei uns, die wir keine Ahnung hatten, wann wir den Angehimmelten wiedertreffen würden. Meine Eltern – ich bin in der DDR aufgewachsen ‒ hatten kein Telefon. Entweder, den jungen Mann hatte es voll erwischt und er stand irgendwann vor der Haustür, oder ich durfte keine Disco verpassen, in der Hoffnung, er wäre auch wieder da.

Tanzen gehe ich mittlerweile schon lange nicht mehr, stattdessen spätestens um halb elf ins Bett. Ich möchte acht Stunden durchschlafen. Das ist mein ideales Pensum, um am nächsten Arbeitstag fit zu sein. Aber denkste! Seit ein paar Monaten werde ich gegen drei, vier, allerspätestens fünf Uhr wach und schlafe nur mit Mühe wieder ein. Manchmal ist es ein Gewitter, das mich weckt, oder ich höre meinen Mann oder eins der Mädchen in der Wohnung herumgeistern. Oft gibt es keinen erkennbaren Grund, warum die Nacht bereits zu Ende sein soll. Ich weiß jetzt, warum diese Stunden als Morgengrauen bezeichnet werden. Ich drehe mich von einer Seite auf die andere, lausche dem Vogelgezwitscher und zähle alle halbe Stunde die Glockenschläge der Kirchturmuhr mit. Schade, dass im Gegensatz zu meinen Teenager-Zeiten nicht die Schmetterlinge im Bauch am Wachsein schuld sind, sondern die Gespenster an die Tür klopfen. Wie damals fahren die Gedanken Karussell, nur drehen sie sich nicht um den Einen. Sie drehen sich um hunderttausend ungelöste Fragen, die in der Dämmerung zu tonnenschweren Problemen mutieren. Statt eine der Fragen zu lösen und weiterzuschlafen, springen meine grauen Zellen planlos hin und her.

Soll ich morgen lieber feste Schuhe anziehen, weil es am Nachmittag regnen könnte? Wie bringe ich die Kleine dazu, sich endlich ernsthaft um ihre Ferienhausaufgaben zu kümmern? Nächste Woche soll das Projekt online gehen, dabei hatte ich keine Zeit, die Texte zu kontrollieren. Ist es egal oder mache ich meinen Job richtig und mich unbeliebt und sage, dass wir noch nicht fertig sind? Was mache ich, wenn die Große morgen ihre Freundinnen einlädt und sie alle bei uns zu Mittag essen wollen? Oma hat bald Geburtstag und wir fahren nicht hin. Was, wenn es ihr letzter Geburtstag ist? Wann hat mein Mann eigentlich dieses Billiard-Turnier, womöglich ausgerechnet an dem Abend, an dem die Nachbarn uns zum Grillen eingeladen haben? Und was bringe ich da fürs Büffet mit? Sollte ich nicht doch noch mal den Job wechseln?

Es geht um den nächsten Tag und ums Leben im Großen und Ganzen. Es geht um banale Alltagsentscheidungen und quälende Sinnfragen. Es geht um alles und nichts. Und es nervt. Meine schlaflosen Nächte sind obendrein von Schulter- und Nackenschmerzen begleitet. Derzeit versuche ich es mit einem muskelentspannenden Medikament. Es hilft nur wenig und soll nach einem Monat abgesetzt werden. Und dann? Kissen habe ich bereits in allen möglichen Formaten und mit allen unmöglichen Füllungen ausprobiert. Gerade schlafe ich mit zweien gleichzeitig in einem Bezug ‒ eins mit Buchweizenschalen und eins mit wenigen Gänsefedern gefüllt. So kann ich auf der Suche nach einer bequemen Position die weichen und festen Schichten hin- und herschieben.

Bei mir sind es mittlerweile wohl die Wechseljahre, denen ich meine schlaflosen Nächte zu verdanken habe. Es sollte mich trösten, in diversen Foren und Gesundheitsportalen zu lesen, dass ich damit nicht allein bin. Und ich kann froh sein, dass dieses Phänomen bisher nicht mit Schweißausbrüchen einhergeht. Leider schätzt man die guten Zeiten immer erst im Nachhinein. Dreißig Jahre lang, zwischen zwanzig und fünfzig, waren die Nächte pure Erholung. Jetzt bin ich einundfünfzig, und es ist Schluss mit lustig. Womöglich denkt ihr beim Stichwort schlaflose Nächte auch an all jene, in denen ihr gefeiert, gequatscht und geliebt habt. Aber das sind schöne Schlaflosigkeiten und meistens bereut man sie nicht. Hier geht es um die einsam verbrachten, unfreiwillig ruhelosen Stunden. Mütter denken vermutlich auch an ihre durchwachten Nächte mit Neugeborenen. Da hatte ich Glück oder einfach einen guten Weg gefunden. Die Kleinen kamen, sobald sie nachts das erste Mal aufwachten und einen Mucks von sich gaben, direkt zu mir an die Brust. Nachttischlampe an, Kind aus dem Babybett zu mir, Nachttischlampe aus, weiterschlafen. Der Papa wurde nicht einmal wach.

Schön wäre es, wenn man die Sorgen auch so einfach an die Brust nehmen könnte. Wenn mich der Wecker morgens aus dem Bett klingelt – nachdem ich im besten Fall doch noch mal für eine halbe oder knappe Stunde geschlafen habe – erscheinen all die Probleme gar nicht mehr so furchteinflößend. Statt zu grübeln, ist das Programm klar: aufstehen und losleben. Nüchterner Pragmatismus ist sowieso immer die beste, weil einzig praktikable Lösung. In Hinblick auf Prinzen genau wie auf Gespenster.

PS von Sophie: Anke schreibt auf ihrem Blog tuttopaletti.com über ihren Alltag mit Mann und Kindern in Italien, mal amüsant, mal nachdenklich, immer lesenswert. Schaut dringend mal vorbei! Ich habe Anke übers Bloggen kennengelernt und möchte sie nicht mehr missen: weder als Autorin ihrer Beiträge, die mich oft genug an unser eigenes Familienleben erinnern, noch als treue Leserin meiner Texte.

10 Kommentare zu „GÄSTEBUCH: Immer wieder: Schlaflose Nächte“

    1. Ich kann mich nur anschließen! Ich mag den Text auch wahnsinnig gern. Das absolute Sahnehäubchen ist für mich die Aussage, dass es schön wäre, wenn man die Sorgen auch einfach an die Brust nehmen könnte. Das finde ich geradezu genial und ich wünschte, ich hätte so etwas Kluges geschrieben. 😉🤓

      Gefällt 1 Person

      1. Danke dir, liebe Sophie, dass ich auf deinem wunderbaren Blog zu Wort kommen und mich „verewigen“ durfte. Dein Lob macht mich ein bisschen verlegen und sehr glücklich. Liebe Grüße!

        Gefällt 1 Person

  1. Was soll ich sagen, liebe Anke? Mir geht‘s momentan wie dir, inklusive Schulter- und Nackenschmerzen. Deshalb werde ich jetzt aufstehen und losleben 😉 . Ich mag deinen Text wirklich sehr 🧡! LG von Anja

    Gefällt 2 Personen

    1. Liebe Anja! Danke, das freut mich. Also der Aspekt, dass du meinen Text magst. 😉 Bleiben wir tapfer, bestimmt kommen auch wieder entspanntere Zeiten. Liebe Grüße aus Italien! Anke

      Gefällt 1 Person

  2. Ein Text, der mich sehr erfreut hat. Ich musste schmunzeln und nicht nur einmal laut lachen. So ist es- das pralle Leben mit immer wieder neuen Phasen, die noch nicht dabei waren. Besonders hat mir die neue Sichtweise des Begriffs „Morgengrauen“ gefallen. Daran werde ich bei meiner nächsten schlaflosen Nacht denken. Ich befürchte, das wird bald sein – vielleicht schon in ein paar Stunden. Ich bin auch eine treue Leserin von Ankes Blog und bin froh, ihn entdeckt zu haben.

    Gefällt 2 Personen

Hinterlasse eine Antwort zu Anja Antwort abbrechen