Immer wieder: Abitreffen

oder: Der Reichtum der anderen

Anfang der Woche war ich mit Pippilotta im Theater, im Berliner Ensemble am Bertolt-Brecht-Platz. Schon von der anderen Seite der Spree konnte ich ein Schild auf dem Dach des Gebäudes erkennen. Darauf stand das Brecht-Zitat: „Ändere die Welt, sie braucht es“. Gespielt wurde das Stück „Brechts Gespenster“ und es ging unter anderem um Kommunismus, Kapitalismus, das Proletariat und „den kleinen Mann“. Es war Puppentheater, das ist jetzt vielleicht etwas überraschend. Die „kleinen Leute“ wurden von Zwergenfiguren dargestellt, die große Mützen trugen und lange Bärte. Vor allem den einen schloss ich schnell in mein Herz. Der Schauspieler, der ihn sprach, verlieh ihm eine hohe, eher kindliche Stimme. Und der Zwerg sprach über sein Hab und Gut im Diminutiv: „Das ist mein Beutelchen. Das ist mein Eimerchen. Das ist mein Schippchen.“ Er besaß nicht viel, das Wenige, was er hatte, war ihm wichtig. Er rührte mich.

Dieser Zwerg, „der kleine Mann“, der mit zwei weiteren Zwergen stellvertretend für „die kleinen Leute“ stand, versuchte eine Rolltreppe zu erklimmen, die abwärtsfuhr. Im Theater war es ein schräg gestelltes Brett, die Puppenspielerin bewegte die Füße der Figur so, dass es aussah, als ob der Zwerg auf der fahrenden Rolltreppe auf der Stelle läuft. So sehr sich der kleine Mann auch bemühte, so sehr er keuchte und strampelte – er schaffte es nicht hinauf. (Und wird es niemals schaffen, so die These.)

Ich dachte an all die kleinen Leute und an deren Bemühen, vielleicht nicht unbedingt aufzusteigen, sondern überhaupt über Wasser zu bleiben. Ich dachte an Brecht und daran, wie aktuell er noch immer ist.

Ich fragte mich, wie viele Menschen mehr arbeiten als ich, aber weniger verdienen. Und was der Unterschied zwischen ihnen und mir ist: Die Herkunft? Der Studienabschluss? Noch mehr?

Am vergangenen Samstag hatte ich Abitreffen. 25 Jahre. Ein Vierteljahrhundert. Aber war es nicht gerade erst gestern gewesen, als ich zu den Klängen von „That Girl“ von Maxi Priest und Shaggy mein Abizeugnis entgegengenommen habe? Nein, war es nicht. Dazwischen liegen ein Jura-Studium samt Referendariat, mehrere journalistische Praktika, ein Traineeprogramm mit Schwerpunkt Verbraucherjournalismus, zwei Jobs, eine Hochzeit und drei Geburten, um nur ein paar grobe Eckdaten zu nennen. Und auch wenn ich nicht so aussehe (hihi), bin ich mittlerweile 44 Jahre alt, bald sogar 45.

Ich habe es schon mal erwähnt: Ich habe mein Abitur an einer Schule gemacht, auf der bis auf wenige Ausnahmen sehr viele Jugendliche waren, die sehr reiche Eltern hatten. Ich gehörte zu den Ausnahmen. Mein Vater arbeitete als Psychologe in einem Krankenhaus des Maßregelvollzugs, meine Mutter als Sozialarbeiterin in der Jugendgerichtshilfe. Wir wohnten zu viert in einer Vier-Zimmer-Wohnung zur Miete. Im Sommer reisten wir mit dem Zelt nach Bornholm, später in ein Ferienhaus. Ich gab Nachhilfe in Deutsch und Englisch, um mein Taschengeld aufzubessern (obwohl meine Eltern sehr großzügige Taschengeldgeber waren) und weil es mir Spaß machte. Nach meiner Führerscheinprüfung lieh ich mir bei Bedarf den gebraucht gekauften Mercedes Benz (immerhin!) meiner Eltern. Mir fehlte es an nichts.

Eine ehemalige Mitschülerin aus meinem Abi-Jahrgang bekam zu ihrem 18. Geburtstag von ihren geschiedenen Eltern jeweils ein Auto geschenkt. Meine Eltern haben in ihrem Leben nur einen einzigen Neuwagen gekauft. Da war ich noch ein Kind. Soweit ich weiß, nahmen sie dafür einen Kredit auf.

Das letzte Abitreffen fand vor fünf Jahren statt. Ich war mit gemischten Gefühlen dorthin gegangen. Mit einigen damaligen Mitschülern bin ich auch heute noch sehr gut befreundet, die anderen hatte ich fast alle seit Jahren nicht gesehen. Was hätte ich mir mit ihnen zu sagen? Aber es war ein wirklich schöner Abend, die Rollen, die wir zu Schulzeiten innehatten oder spielten, waren plötzlich nicht mehr relevant. Es gab sie also nicht mehr: die Coolen, die Streber, die Außenseiter, die Sportlichen, die Klassenclowns, die Schüchternen, die Schönen. Zumindest habe ich es nicht so wahrgenommen. Nur die Reichen gab es immer noch.

Beim diesjährigen Abitreffen hörte ich Sätze wie „Und dann haben wir uns dort ein Haus gekauft“ und „Wir haben gerade unser Haus eingerichtet“. Ich habe noch nie in einem Haus gewohnt und werde es aller Voraussicht nach auch nie tun. Ich schreibe das ohne Bitterkeit und Neid. Es ist nur eine Feststellung. Am Sonntag waren mein Mann und ich im Berliner Stadtteil Dahlem joggen (ein begrüntes Wohngebiet mit zahlreichen Villen, wie es im Internet heißt). Er sagte: „Dort laufen, wo wir nie wohnen werden.“

Ich glaube, viele meiner ehemaligen Mitschüler leben heute in solchen Häusern – vielleicht sogar in Villen – in Dahlem und vergleichbaren Gegenden auf der ganzen Welt. Sie haben fleißig studiert und sich bestimmt angestrengt, sie haben gute Jobs und arbeiten sicherlich hart. Dennoch frage ich mich, ob das ausreicht, um derart wohlhabend zu sein. Mein Mann und ich haben auch fleißig studiert und uns angestrengt, wir haben ebenfalls gute Jobs. Vielleicht arbeiten wir nicht hart genug? Mein Bruder arbeitet sogar sehr hart und noch dazu im Schichtdienst, aber bei ihm ist es eher so wie beim anfangs beschriebenen Zwerg auf der Rolltreppe. Dabei ist mein Bruder Buchhändler. Ist das schon das Proletariat, ein Begriff, den heutzutage niemand mehr verwendet? Die Mitschüler, von denen ich rede, haben auch schon als Kinder und Jugendliche in solchen Häusern gewohnt. Vielleicht spielt das eine Rolle, eine entscheidende womöglich?

Ein guter Bekannter, Fachanwalt für Erbrecht, sagte mal zu mir, dass ihn seine berufliche Erfahrung Folgendes gelehrt hätte: „Es ist kaum möglich, aus eigener Kraft je so reich zu werden wie jene, die reich erben.“

Die Lücke, die zwischen dem kleinen Mann und vielen meiner Mitschüler klafft, ist riesig. Kein Vorwurf, keine Bewertung, nur Beobachtung. Die Lücke, die zwischen mir und meinen ehemaligen Mitschülern klafft, ist groß. Aber bei weitem nicht so groß wie die Lücke zwischen mir und dem kleinen Mann.

7 Kommentare zu „Immer wieder: Abitreffen“

  1. Schöner Beitrag über die entscheidende Rolle, die der eigene soziale Background für das spätere Leben hat. Wer nicht aus reichem Hause kommt, hat es ungleich schwerer, zu Wohlstand zu kommen… aber kommt es überhaupt darauf an, Reichtümer anzuhäufen? Hauptsache, man kann sich einigermaßen die Sachen leisten, die für ein schönes Leben wichtig sind. Ein Haus in Dahlem gehört definitiv nicht dazu…

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    1. Kommt auf das Haus an … 😉
      Nein, ganz im Ernst: Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Ich brauche das auch alles nicht zum Glücklichsein.
      Ich habe den Beitrag ohne Neid geschrieben, aus der Rolle einer Beobachterin heraus.
      Und Glück sieht ohnehin für jeden anders aus.
      „Der kleine Mann“ tut mir allerdings schon leid, das muss ich sagen. So viel Arbeit, die für das Funktionieren einer Gesellschaft wichtig ist, wird so schlecht bezahlt. Darüber habe ich nachgedacht, nicht so sehr über die Häuser in Dahlem.
      Auf der Schule bin ich übrigens ganz zufällig gelandet. Mein Bruder war zuerst da. Er hat Rugby gespielt und der Präsident des Vereins war dort Lehrer …

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  2. Auf jeden Fall bestimmen die Herkunft und gute Beziehungen, was man werden kann. Bei einem jungen Kollegen, der frisch von der Uni bei uns als Projekt-Manager(!) eingestiegen ist, fragte ich mich die erste Zeit, was ihn dazu befähigte. Ahnung von dem, was wir, die wir für sein Projekt arbeiten, tun, hatte er keine. Dann erfuhr ich, dass er der Sohn des Bankiers der Firmeneigentümer ist. Der junge Mann trägt nur feinste Designermode und schwebt durch unsere bescheidenen Büros, wie einem Mailänder Modekaufhaus entsprungen. Als es nach kurzer Zeit zu Auseinandersetzungen kam, bei dem ein anderer leitender Mitarbeiter seine mangelnde Professionalität ansprach, rastete er aus. Konsequenz? Man schickt ihn zu einem Kurs, wo er lernen soll, seine Emotionen zu kontrollieren. So funktioniert das, wenn man aus dem richtigen Hause kommt. Während die Masse der Studienabgänger sich mit jahrelangen Praktika und prekären Arbeitsverhältnissen über Wasser hält. Wie du schreibst, liebe Sophie: So aktuell ist Brecht. Leider.
    Sozialneid auf die Villenbewohner? Ob dort die Menschen glücklicher sind als die in Mietwohnungen, möchte ich sehr stark anzweifeln. (Zu viel) Geld macht bekanntlich nicht glücklich, im Gegenteil.
    Liebe Grüße, Anke

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    1. Oh Mann, das ist aber auch eine wilde Geschichte!!! Da bleibt einem echt die Spucke weg. 😦
      Ich hoffe, du leidest nicht unter dem neuen Projekt-Manager …?!
      Es gibt übrigens tatsächlich einen Spaziergang, den wir manchmal in Dahlem machen, den wir „Sozialneidrunde“ nennen. Aber das ist nur ein Spaß. Es ist einfach schön, dort spazieren zu gehen.
      Beim Abitreffen fand ich es interessant und bezeichnend, mit welch eher unbewegter Miene Dinge wie Hauskäufe vorgetragen wurden. Es schien nichts wirklich Besonderes zu sein (für mich wäre es das).
      Und ja, das Glück wohnt auch (oder gerade!) in Mietwohnungen, zum Beispiel in unserer. 😉
      Liebe Grüße zurück und schon mal ein wunderschönes Wochenende!

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  3. Liebe Sophie,
    das ist ja ein sehr authentischer Beitrag. Sprachlich und inhaltlich gut formuliert und ausgewogen. Tolle Idee zu einem gut gewählten Thema. Ich musste sofort an eigene Erfahrungen im „Berliner Ensemble“ denken. Besonders gut ist mir die Inszenierung von „Mutter Courage….“ in Erinnerung. Ist ja wegen der dort beschriebenen Problematik leider top aktuell.
    Weiter so!
    Es grüßt der „Follower“

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    1. Lieber Follower,
      das Abitreffen an sich hatte mich schon dazu inspiriert, einen Beitrag zu schreiben. Das Theaterstück kam dann noch mit seiner Thematik on top beziehungsweise stand ja eigentlich im krassen Gegensatz dazu. Es hat mir für die folgenden Tage viel zum Nachdenken mitgegeben, das wäre sicherlich ganz in Brechts Sinne gewesen. Das Stück ist übrigens von Suse Wächter und lohnt sich sehr!
      Toll war es auch, dass mich meine Freundin Pippilotta mit ihrer Nutze-den-Tag-Mentalität mitgenommen hat. Wir hatten einen sehr schönen Abend zusammen. Theater ist immer wieder ein Erlebnis, wie du ja selbst zu berichten weißt.
      Herzliche Grüße, Sophie

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