oder: Kompromisse
Vor einigen Jahren war ich mit meinem Mann auf einem Konzert des schottischen Sängers Lewis Capaldi, den ich bis zu diesem Abend total gut fand. Danach nicht mehr so, aber ich weiß nicht, ob es wirklich an ihm lag oder an den Umständen des Konzerts.
ER hatte sich auf der Bühne nicht besonders gut benommen, wie ich fand, hatte ins Mikro gerülpst und geflucht. Vielleicht bin ich einfach ein bisschen verpimpelt, dass mir das etwas ausmacht. Aber irgendwie war er für mich nach dem Konzert nicht mehr derselbe wie davor. Ich hatte ihn mir weicher, sympathischer vorgestellt, nicht so rüpelhaft.
MIR ging es an diesem Abend gesundheitlich nicht gut. Ich würde sagen: entweder Kreislaufprobleme oder eine leichte Panikattacke oder beides.
Wir standen vor der Bühne und Lewis Capaldi ließ auf sich warten. Irgendeine krawallige Vorgruppe war aufgetreten und ich weiß noch, wie mir irgendwann die Beine schwer wurden und ich dachte, dass ich gleich umkippe. Dann entsteht bei mir so eine Art Krisseln im Kopf und meine Wahrnehmung verändert sich, ein bisschen so, als würde ich aus mir heraustreten, wobei es das nicht genau trifft. Vielleicht sogar eher andersherum: so, als würde ich mich in mich zurückziehen. Als könnte ich das vorübergehende Abschalten einzelner Gehirnareale live mitverfolgen. Dieses Gefühl kannte ich schon, allein der Gedanke daran macht mir Angst. Und auch in Ohnmacht war ich schon gefallen. Ich hasse beides. Es ist der totale Kontrollverlust. Für niemanden schön, für Menschen mit Zwangsstörung unerträglich.
Mein Mann holte mir eine Cola, ich wollte mich irgendwo anlehnen, aber überall dort, wo Wände waren, führten auch Fluchtwege entlang, die dringend freigehalten werden mussten. Wir hätten gehen können, aber das wollte ich nicht.
Irgendwann hatte ich mich wieder einigermaßen berappelt, die Musik war schön, Lewis Capaldi wie oben beschrieben. Der Abend hätte definitiv besser verlaufen können.
Ich versuche an sich immer, solche Momente zu verdrängen, im kleinen Giftschrank in meinem Kopf zu verstauen, den ich danach wieder mit tausend Schlössern verschließe. Ich meide den Ort, an dem es zu den Kreislaufproblemen/der Panikattacke kam – und dann kann mir auch nichts Schlimmes mehr passieren. Also zumindest nicht dort. Das ist schon mal viel wert.
Wie es der Zufall so wollte, musste ich neulich – nach Jahren – wieder in diese Konzerthalle. Und genau genommen graute es mir schon von dem Moment an davor, als ich sehenden Auges die Karten kaufte. Sie waren für ein Nico-Santos-Konzert, auf das ich mit Baby Boss gehen wollte. Es gab nur noch Stehplätze.
Für meine Kinder würde ich Berge versetzen. Egal wann, egal wie. Ich schöpfe Energie aus ihrer bloßen Existenz. Da werde ich es ja wohl aushalten können, mal eben drei Stunden in einer Konzerthalle zu stehen, in der ich zuletzt fast umgekippt wäre.
Baby Boss wusste nichts davon, natürlich nicht. Es reicht, dass ich meine Zwänge im Alltag nicht verbergen kann. Dann muss ich meine Kinder nicht auch noch mit der ganzen Bandbreite meiner neurotischen Befürchtungen konfrontieren. Nachher färbt das ab.
Ich muss sagen: Ich hatte selbst total große Lust auf dieses Konzert. Nico Santos ist für mich so eine Art Rundum-sorglos-Paket: Er singt gut, tanzt gut, ist ein fantastischer Entertainer und noch dazu total sympathisch und am Boden geblieben. Es war nicht zu befürchten, dass er ins Mikrofon rülpst oder anfängt zu fluchen.
Wie aber sollte ich dem alten Affen Angst begegnen? Und verhindern, dass Baby Boss in die überfordernde Situation gerät, eine Panikattacke ihrer Mutter mitzuerleben? Darüber dachte ich seit dem Kauf der Konzertkarten immer wieder nach und war schon versucht, meinen Mann mitzuschicken. Aber es sollte ja ein Abend für uns werden: für Baby Boss und mich.
Ich kaufte mir Kompressionsstrümpfe, steckte drei, vier Traubenzucker in meine Handtasche und fühlte mich einigermaßen startklar. Nachdem Baby Boss und ich angekommen waren, kauften wir Popcorn und Apfelschorle (damit mein Blutzuckerspiegel einigermaßen konstant blieb).
Schon bevor wir überhaupt den Konzertsaal betraten, merkte ich, dass mir mulmig zumute wurde. Ich bin einigermaßen geübt darin, das zu überspielen. Das geht natürlich aber nur bis zu dem Punkt, an dem man tatsächlich umfällt. Drinnen war es gerammelt voll, und mir war klar, dass ich mich nicht mitten in die Menschenmenge drängeln konnte. Für Baby Boss hätte ich es getan, für mich wäre es zu viel gewesen. Wir blieben hinten stehen, ich konnte mich an eine Wand lehnen, die mir mehr Halt gab, als Wände das normalweise tun. Klar, die Sicht war eingeschränkt, für Baby Boss, die sicher 15 Zentimeter kleiner ist als ich, umso mehr. Sie ist ein Fan, sie wollte ihrem Idol nahe sein. Es tat mir leid, dass ich ihr das nicht bieten konnte.
Als Nico Santos auftrat, wurde er live und in Überlebensgröße auf zwei Leinwänden gezeigt, die links und rechts von der Bühne standen. Die konnte Baby Boss sehr gut sehen und obwohl ich wusste, dass sie es sich anders gewünscht hatte, war es doch besser als nichts. Später spielte er zwei, drei Songs auf einer Bühne ganz hinten im Saal, bei uns in der Nähe. Das war ausgleichende Gerechtigkeit und wir waren selig.
Das Konzert selbst war fantastisch, Nico Santos zuckersüß, Baby Boss und ich waren begeistert. Er holte gleich mehrere andere deutsche Stars auf die Bühne: Álvaro Soler, Sido und ClockClock. Es gab viel Pyrotechnik und riesige Luftballons, die über die Köpfe des Publikums flogen. Die Musik hatte ich noch tagelang im Ohr.
Leider konnten wir nicht bis zum Schluss bleiben, sondern mussten uns gegen kurz nach zehn aus der Halle schleichen. Baby Boss schrieb am nächsten Tag, einem Montag, in den ersten beiden Stunden eine Englisch-Arbeit, und der Weg von der Halle bis zu uns ist lang. Wie so oft im Leben muss man sich auf Kompromisse einlassen. Lieber so als sich von vornherein dagegen zu entscheiden.
Ein schöner Text, liebe Sophie, ich habe mitgefiebert und deine Anspannung spüren können. Es freut mich, dass alles gut gegangen ist und ihr zwei es genießen konntet. Du hast Recht, manchmal sind auch Kompromisse keine schlechte Wahl und definitiv besser als ein Verzicht.
Gibt es denn bei den anderen Konzerten, auf die du ja doch gern gehst, Ed Sheeran fällt mir da doch glatt ein 😉, Sitzplätze?
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Ja, erfreulicherweise ist das so: Es GIBT Sitzplätze! Natürlich kann man von denen begeistert aufspringen und tanzen. Aber man kann sich eben auch wieder setzen, wenn das nötig werden sollte. Für mich ist so ein Setting immer gut und erleichtert mir den Konzertbesuch ungemein.
Aber der Abend war wirklich total schön und ich hoffe, Baby Boss wird sich noch lange (oder vielleicht immer) daran erinnern. Ich zum Beispiel sehe meine ersten Konzertbesuche auch noch vage vor mir: die New Kids on the Block in der Deutschlandhalle in Berlin. 🥰
Und danke für deine lieben Worte, liebe Anke. 🥰
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