Immer wieder: Aus dem Leben einer Hypochonderin

oder: Wer viel fragt, bekommt viele Antworten

In meiner Erinnerung habe ich schon als Teenager unverhältnismäßig viel und intensiv nachgedacht und mir vermutlich im Vergleich zu anderen überdurchschnittlich oft Sorgen um irgendetwas gemacht. Das ist bis heute so geblieben. Ich glaube, ich schaue auch überdurchschnittlich oft genau bei mir nach. Was das bedeuten soll? Ich horche in mich hinein. Ob alles stimmt bei mir. Mit mir.

Eine meine Hauptängste war immer, verrückt zu werden. Was auch immer das heißen mag. Das fand und finde ich besonders gruselig: nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein. Krude Dinge zu sagen und zu tun und alle stehen daneben und denken sich befremdet: Alles klar. Gleich danach kommt die Angst, an Krebs zu erkranken und zu sterben. Besonders schlimm ist die Furcht vor einem Gehirntumor, vielleicht auch, weil ebenso wie bei einer Verrücktheit die Schaltzentrale des Menschen betroffen wäre.

Sepsis ist ein Thema für mich. Herzmuskelentzündung. Flugzeugabsturz. Anaphylaktischer Schock. Aneurysma.

Wenn ich als Teenager nach langem Nachdenken irgendwelche Erkenntnisse gewonnen hatte, zum Beispiel über mich oder zwischenmenschliche Beziehungen, die ich damals führte, habe ich das oft mit meinem Vater geteilt. Er spielt bis heute eine bedeutende Rolle in meinem Leben. Eine gute bedeutende Rolle. Ich schilderte ihm also mein Fazit und er – Psychologe der alten Schule – sagte oft, gefühlt sogar immer: „Schau noch mal genau bei dir nach.“ Ich dachte, dass ich das schon getan hätte, deshalb kam ich ja mit einem Ergebnis zu ihm. Vielleicht war es noch nicht genug gewesen?

Ich habe diese Aufforderung – oder vielleicht war es auch nur ein Hinweis, ein Vorschlag? – jedenfalls sehr verinnerlicht. Viellicht ist es eine Art Lebensmotto für mich geworden, eine Weisheit gar? Ich schaue noch mal genau bei mir nach, um möglichst nichts zu übersehen. Vielleicht schon zwanghaft?

Wahrscheinlich interessieren sich nur ungefähr 6,7 Prozent aller Teenager für solche Ratschläge ihrer Eltern. Von den Interessierten beherzigen diese Tipps allerdings wiederum nur 3,2 Prozent. Offensichtlich gehörte ich zu denen. Das lag zum einen daran, dass mir die Meinung meines Vaters sehr wichtig war (und ist). Und zum anderen daran, dass dieser Hinweis bei mir als einer eher selbstunsicheren Person auf sehr fruchtbaren Boden fiel. Mein Vater trägt keine Schuld an all dem. Just saying.

Ich war und bin also jemand, der sehr genau bei sich nachschaut. Das kann für Menschen mit einer selbst diagnostizierten Hypochondrie schwierig sein.

Neulich zum Beispiel war ich beim Arzt, um einige Symptome abklären zu lassen, die ich zuvor zwar gegoogelt hatte, dabei aber noch nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen war. In der dunklen Jahreszeit habe ich ziemlich regelmäßig eine Art Schwächegefühl in den Beinen, so, als würden sie gleich nachgeben und ich umkippen. Es könnte auch ein leichtes Zittern sein, eine Art Muskelschwäche, wobei das eigentlich keinen Sinn macht, wo ich doch recht mühelos 10 Kilometer am Stück jogge. Vielleicht hat es in irgendeiner Art mit dem Lichtmangel zu tun, bilde ich mir ein. Leider habe ich Jura studiert und nicht Medizin, so dass ich mir selbst keine fundierten Diagnosen stellen kann.

Ich war also beim Arzt, genauer gesagt: einer Ärztin, die mit den von mir geschilderten Symptomen allerdings auch nichts anfangen konnte. Sie sagte: „Bei jungen Leuten ist es ja gerade in Mode, Lachgas zu inhalieren.“

Ach, so? dachte ich.

Das könne zu Schädigungen des Rückenmarks und das wiederum zu den von mir beschriebenen Missempfindungen in den Beinen führen.

Ach so? dachte ich. Sagte aber etwas wie: „Lachgas inhalieren wie junge Leute es tun, kann ich bei mir als Ursache ausschließen, da ich weder mit jungen Leuten auf Partys feiere noch gemeinsam mit ihnen Lachgas inhaliere.“ Just saying!

Aber da ich mich eh schon zu Geständnissen gezwungen sah, erwähnte ich der Vollständigkeit halber den einzigen Vorfall dieser Art, in den ich je verwickelt war: Lachgas-Inhalation auf einer Party vor mehr als 25 Jahren. In meiner Erinnerung habe ich an dem Abend viel gelacht. (Bitte nicht nachmachen wegen der möglichen Schädigung des Rückenmarks.)

Eine Ursache für meine Symptome fand die Ärztin leider nicht. Dafür führte sie einen Routinecheck durch und hörte mit ihrem Stethoskop meine Aorta an verschiedenen Stellen ab, auch am Bauch, der heftig pulsierte, wie er es immer tut, wie ich es bis zu diesem Moment für normal gehalten hatte, ohne genau bei mir nachgeschaut zu haben.

Sie schüttelte besorgt den Kopf, wie nur Ärztinnen und Ärzte es machen, und sagte etwas wie: „Ich höre ein Rauschen. Das müssen wir abklären lassen. Verdacht auf Aneurysma der Aorta.“

Den Termin zum Ultraschall habe ich morgen.

Hinterlasse einen Kommentar