oder: Generation Corona
Ich habe das Gefühl, dass in meinem Leben gerade nur noch Dinge passieren, die sich gut für Blogeinträge eignen. Aber ich lege es ganz bestimmt nicht darauf an, indem ich zum Beispiel besonders wild oder waghalsig lebe, meine Maske unterhalb meiner Nase trage oder jemanden am S-Bahnhof Hermannstraße in Berlin-Neukölln darauf anspreche, dass er es tut. Im Gegenteil: eigentlich möchte ich gerade nur noch meine Ruhe haben, damit ich nicht wieder einen Zahnarzttermin vergesse oder etwas anderes von substanzieller Bedeutung. Aber die Erlebnisse der letzten Tage und Wochen lassen mir eigentlich keine andere Wahl, als damit das Internet vollzuschreiben.
Seit März 2020 arbeite ich die meiste Zeit im Home Office, was viele Vorteile und eventuell sogar noch mehr Nachteile mit sich bringt, ich weiß es nicht, ich konnte es noch nicht abschließend evaluieren. Ein Vorteil ist vielleicht, dass ich auch tagsüber auf dem sogenannten Festnetz erreichbar bin. Auch in den 90ern habe ich viel über das Festnetz telefoniert, aber das nur nebenbei.
Es war noch nicht einmal eine Woche seit dem vergessenen Zahnarzttermin vergangen und ich saß zuhause im Home Office und überlegte, ob ich mir ein Aluhütchen aufsetzen sollte, damit ich geschützt wäre, falls mir die Decke auf den Kopf fällt, als das Festnetztelefon klingelte. Es hätte mein Mann sein können, der auf Dienstreise war, meine Mutter und vielleicht auch meine Freundin Goldlöckchen – ansonsten ruft mich eigentlich niemand auf dem Festnetz an. Ich griff nach dem Telefonhörer, sah die eingeblendete Nummer und hatte sofort das Gefühl, dass es ein ziemlich unguter Anruf sein würde. Die ersten Zahlen ließen erkennen, dass er von offizieller Seite kam, nämlich von einer Berliner SCHULE. Und es war Corona-Testtag. „Hallo?“ „Ja, hier Frau Sowieso von der Sowieso-Oberschule.“ „Oh, hallo.“ „Ihre Tochter ist heute positiv auf Corona getestet worden.“ Gibt es auch Aluhütchen, die vor solcherlei Anrufen schützen? Denn der Umstand, dass unsere älteste Tochter geimpft ist, hatte ihn ja nicht verhindern können.
Wenig später fanden sich meine Tochter und ich in einer von zwei Warteschlangen wieder, die ins offizielle Corona-Testzentrum führten: eine für die mühselige Registrierung im System, die andere für all jene, die sich schon mühselig registriert hatten und nun einen QR-Code auf ihrem Smartphone vorzeigen konnten als Zugangsberechtigung zu einem Covid-19-Test. Ich bin schon noch irgendwie aus der Generation Festnetz und gebe zu, dass es mich ein bisschen herausfordert, wenn ich seitenlange Formulare mit dem Smartphone ausfüllen und irgendwelche QR-Codes scannen, dabei Zuversicht verströmen und so tun soll, als ob ich alles im Griff hätte, wenn ich mich innerlich total weit davon entfernt fühle, alles im Griff zu haben. Nur gut, dass es Testzentrum-Helfer gab, die die Warteschlange immer wieder abklapperten und auf fremde Handys tippten (Nicht vergessen: Zuhause schnellstmöglich das Smartphone desinfizieren!).
Meine Tochter war nicht die einzige Schülerin, die an diesem Tag nach positivem Test umgehend ins Sekretariat komplimentiert wurde. In der letzten Zeit haben sich an der Schule falsch positive Tests gehäuft, trotzdem stelle ich mir vor, dass die betroffenen Schüler recht bedröppelt im Sekretariat gestanden haben. Ein Mädchen aus der 12. Klasse, also eigentlich eher eine junge Frau, hat sogar geweint. „Das hat mir total leidgetan“, sagte meine Tochter. Ich frage mich, was das mit den jungen Leuten macht, mit positivem Testergebnis nach Hause geschickt zu werden. Ich frage mich, was die Pandemie insgesamt mit ihnen macht. Ein Junge aus der Klasse meiner Tochter hat ihr „Gute Besserung“ hinterhergerufen, ihr Sitznachbar hat gesagt „Wir können ja tauschen.“ Gleich zwei Freundinnen wollten für sie mitschreiben und ihr die Mitschriften per WhatsApp schicken. Die Jugendlichen können das offenbar noch: sich in Zeiten der Not solidarisch zeigen.
Etwa eine Stunde haben meine Tochter und ich vor dem Testzentrum angestanden, zwischen 9 und 10 Uhr morgens, die Zeit musste ich später nacharbeiten, der Test selbst dauerte nur wenige Sekunden. Dann fuhren wir gemeinsam mit der U-Bahn nachhause, ich klappte mein Arbeitslaptop auf und sie – mir gegenübersitzend – ihre Schulhefte.
Ich habe sie über den Rand meines Notebooks hinweg betrachtet, sie heimlich dafür bewundert, dass sie das alles mit solch stoischer Gelassenheit erträgt: die Monate im Homeschooling zu Beginn des Jahres, das routinierte In-der-Nase-Herumstochern, den Ausfall von Hobbys, das Absagen von Urlaubs- und Klassenreisen, die Kontaktbeschränkungen, das Aus-der-Klasse-geschickt-Werden, die Pandemie insgesamt und überhaupt.
Sie ist so jemand, den ich am liebsten die ganze Zeit wie einen Pokal vor mir hertragen würde, so stolz bin ich, so sehr liebe ich sie. Früher, als sie noch klein und handlich war, habe ich das auch gemacht. Jetzt ist sie fast so groß wie ich und deshalb funktioniert das nicht mehr. Sie ist wahnsinnig klug, zielstrebig, gewissenhaft, engagiert, wunderhübsch – und das Wichtigste: Sie hat ein Herz aus purem Gold. Das merkt man zum Beispiel daran, wie gutmütig sie mit ihren Mitmenschen umgeht, das war schon im Kindergarten so. Da gab es mal eine Umfrage in ihrer Gruppe, mit wem die Kinder gern befreundet wären. Am häufigsten wurde der Name meiner ältesten Tochter genannt. Und das, obwohl sie total zurückhaltend ist und es auch damals schon war.
In der Oberschule hat sie längere Zeit zusätzlich zu ihrem Französisch-Unterricht eine Französisch-AG besucht und neulich ein Sprachzertifikat erworben. Sie hatte 95 von 100 möglichen Punkten. Und für die Oberschule hat sie sich mit einem Notendurchschnitt von 1,0 beworben.
Eine ihrer besten Freundinnen hat in der dritten Klasse während des Projekts „Mit dem Wort ‚sein‘ kann man schöne Komplimente machen“ geschrieben: „Sie ist sehr höfflich.“ Ja, das ist sie auch. Höfflich und leise und dennoch präsent.
Wenn sie ein Prototyp für die Generation von morgen ist, mache ich mir keine Sorgen um die Zukunft – all den drängenden Fragen zum Trotz. Wenn ich an ihrer Stelle im Sekretariat gestanden hätte, hätte ich ebenso wie das Mädchen aus der 12. Klasse geweint. Meine Große nicht. Ich glaube daran: Menschen wie sie können die Welt retten.
PS Der PCR-Test war wie erwartet negativ. Aber der nächste Schnelltest in der Schule macht ihr Sorgen. Mir auch.