Zum ersten Mal: Eine Welle der Hilfsbereitschaft

oder: Ode an die Freundschaft

Wenn ich als kleines Kind krank war, hatte mein Vater eine ganz besondere Bezeichnung für mich. Ich kann mich noch daran erinnern, wie er nach der Arbeit zur Tür hereinkam und so etwas fragte wie: „Na, wie geht es meinem kranken Hühnchen?“ Ich weiß nicht, woher dieser Ausdruck stammte, ich habe nie danach gefragt, vielleicht hat seine Mutter oder sein Vater schon „krankes Hühnchen“ zu ihm gesagt, wenn er als kleiner Junge krank gewesen ist. Vielleicht hat er es sich ausgedacht, vielleicht schauten mein Bruder und ich einfach wie kranke Hühnchen aus damals, das kann sein. Ich kann zumindest total gut nachempfinden, wie sich so ein krankes Hühnchen fühlt und was es für einen Eindruck auf alle anderen macht. Insofern hat mein Vater sicherlich den Nagel auf den Kopf getroffen.

Unsere kleinste Tochter hatte gefühlt hundert Mal Streptokokken, sie war wahnsinnig anfällig dafür, es gab Phasen, da kam die Krankheit zwei-, dreimal hintereinander. Dann saß einer von uns mit ihr beim Kinderarzt und wartete auf das Rezept für ein Antibiotikum, unsere Kleine hing halb auf ihrem Stuhl, halb auf dem Schreibtisch des Arztes, öfter noch auf unserem Schoß, und fieberte. Dann habe ich sie „Öfchen“ oder „Glühwürmchen“ genannt. Das schien mir total passend für sie. „Na, mein kleines Öfchen“, habe ich dann gesagt, „gleich sind wir dran.“

Wenn ich aber krank bin, dann fühle ich mich nicht wie ein Öfchen oder ein Glühwürmchen, sondern nach wie vor wie ein krankes Hühnchen. Ein armes, zerrupftes, krankes Hühnchen. Und es gibt eine Sache, die ich dann brauche: dass jemand dieses Hühnchenhafte erkennt und mich betüddelt, denn dann geht es mir ganz schnell besser.

Ich kann wirklich von Glück sagen, dass ich so viele tolle Menschen in meinem Leben habe, die es mitbekommen, wenn ich mich wie ein krankes, alleingelassenes, zerrüttetes Hühnchen fühle, und etwas dagegen unternehmen – zuletzt geschehen während unser Familien-Quarantäne und der Coronainfektion von immerhin vier von uns fünfen. Eine Welle der Hilfsbereitschaft schwappte bis zu uns in unsere Wohnung im dritten Stock, sie spülte Anteilnahme und Genesungswünsche über die Schwelle, Nusskuchen und Schokomuffins, eine Plüschmaus samt Verkaufsstube zum Selbstzusammenbauen, Gummibärchen, Raffaello-Schokolade (die ich ganz allein aufgegessen habe) und sri-lankischen Super-Heiltee, der sich wahrscheinlich auch intravenös zum Boostern eignet. Fünf bis zehn liebe Freunde oder Bekannte erklärten sich bereit, Einkäufe für uns zu erledigen. Kein Tag verging, ohne dass sich jemand nach unserem Befinden erkundigt hätte, die Hilfsangebote reichten von „auf dem Weg zur Kita Brötchen vorbeibringen“ bis zu „Hühnersuppe kochen und damit vom eigenen Wohnort in Berlin-Mitte bis zu uns nach Friedenau fahren“. Eine Freundin meiner kleinsten Tochter brachte ihr eine selbstgeschriebene Karte, ein Junge aus ihrer Klasse lieh ihr Bücher gegen die Langweile. Es war einfach unglaublich – und obwohl ich ganz bestimmt nicht noch einmal Corona haben möchte, könnte ich mich daran gewöhnen, auf diese warmherzige Weise umsorgt zu werden.

Eine meiner Freundinnen hat im Zusammenhang mit ihrem Freundeskreis einmal den Begriff „kuratieren“ genutzt. Das fand ich total schön, ich hatte gleich ein Bild vor Augen von allerhand Kostbarkeiten, Bildern, Vasen und Statuen, die jemand mit viel Liebe ausgewählt und in seiner Ausstellung platziert hatte, jedes Stück der Sammlung am richtigen Ort, damit es glänzen kann. Jede Kostbarkeit spielt eine Rolle, zusammen ergibt alles einen Sinn, ein System sogar, seien die einzelnen Exponate vielleicht noch so unterschiedlich.

Wenn ich an meine Freundinnen und Freunde denke und an all die Bekannten, die ich in meinem Leben wie Kostbarkeiten eingesammelt habe, kommt mir noch ein anderes Bild in den Sinn: das eines Sinfonieorchesters. Ich bin nicht besonders musikalisch, vielleicht hat es mich gerade deshalb schon immer fasziniert, wie all die verschiedenen Instrumente zusammenspielen und es dabei auch noch schön klingt. Klar, ich weiß, jeder Musiker hat seine Noten und spielt dann eben einfach seinen Part, aber mir hat sich trotzdem nie ganz erschlossen, wie das genau funktioniert. Für mich hat es deshalb vielleicht etwas Wundersames behalten, wenn Menschen zusammen Musik machen.

Ich war sehr lange nicht mehr in einem größeren klassischen Konzert, aber ich mag es sehr gern. Ich mag klassische Musik und ich mag die Atmosphäre, die bei einem Konzert herrscht. Wenn ich eines besuche, bin ich immer ein bisschen aufgeregt, fast so, als würde ich gleich selbst auftreten – wobei, nein, wenn ich auftreten müsste, würde ich tausend Tode sterben und mit Schnappatmung und weichen Knien einer Ohnmacht entgegensehen. Ich sollte nur einmal auf einer Bühne spielen, da war ich noch im Kindergarten. Meine Rolle war die von Onkel Ratterich, der sein Bier trank und gleich einschlief, nichts Tragendes also. Meine Mutter hatte ein tolles Kostüm genäht, aber aufgetreten bin ich letztendlich nicht. Lampenfieber. Ihr versteht das bestimmt. Vielleicht hätte ich mich in der Rolle des kranken Hühnchens wohler gefühlt, aber die gab es nicht.

Ich mag es, wenn die Musiker auf die Bühne kommen und alle ihre Plätze einnehmen. Jeder hat einen, jeder weiß, wo er hingehört. So ist das auch mit meinen Freunden und Bekannten: jede/r hat seinen Platz, und zwar – ganz ehrlich – in meinem Herzen. Das wollte ich wirklich dringend mal loswerden. Es gibt die Solisten, zum Beispiel die erste Geige oder das Klavier, und es gibt all die anderen Instrumente, die Flöten und Oboen, die Hörner und die Tuba, die unzähligen Streicher, die Pauken, die Trommeln und die kleine Triangel, die wie alle anderen auf ihren Einsatz wartet, ganz bescheiden. Es kommt auf alle Instrumente gleichermaßen an, nicht nur auf diejenigen, die ein Solo spielen (und die schon so lange gemeinsam mit mir durchs Leben gehen). Nur, wenn alle zusammenspielen, wird es imposant, erhaben und ergreifend. Danke dafür, ihr Wunderbaren, ihr Einzigartigen und Herzerwärmenden. Ihr seid – mit Abstand! – das beste Orchester der Welt.

PS It takes more skills than you can tell to play the second fiddle well.

PPS Während wir alle krank waren, ist meine älteste Tochter übrigens wirklich und wahrhaftig gesund geblieben und konnte ihr langersehntes Praktikum bei der Tierärztin machen. Heute hatte allerdings auch sie einen positiven Corona-Test…

1 Kommentar zu „Zum ersten Mal: Eine Welle der Hilfsbereitschaft“

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