Zum letzten Mal: Mitschüler anhimmeln

oder: „Hast du kein Privatleben?“

Als meine große Tochter in der siebten Klasse war, gab es an ihrer Schule einen Tag der offenen Tür, bei dem sie zu einem Arbeitseinsatz eingeteilt war: Besucher fotografieren, Gesichter am Computer spiegeln, neues Ich ausdrucken. Wir anderen – mein Mann, meine beiden kleineren Töchter und ich – waren mit dabei und stromerten interessiert durchs Schulgebäude. Die Grundschule meiner Töchter kenne ich in- und auswendig. Das Gymnasium meiner Großen nicht. Ich kann die Male, die ich dort war, an zwei Händen abzählen, obwohl sie mittlerweile in der neunten Klasse ist. Sind die Kinder erst einmal auf einer weiterführenden Schule – in Berlin wenigstens erst ab der siebten Klasse – ist man als Mutter irgendwie weg vom Fenster.

Eine der Sporthallen lässt sich von einer Empore einsehen. Ich blieb dort hängen und beobachtete Abiturienten – einer von ihnen mit Schnurr- und Backenbart! – beim Basketballspielen. Beim Quietschen der Sportschuhe auf dem Linoleumboden, dem rhythmischen Dribbeln des Balles und dem unverkennbaren Schulturnhallengeruch stieg die Erinnerung an meine eigene Oberschulzeit wie bei einem Flashback in mir hoch. In diesem Moment schien sie nicht lange zurückzuliegen. War es nicht erst gestern gewesen, dass ich als Achtklässlerin Abiturienten angehimmelt hatte? Also, zumindest einen? Kurz hatte ich den Eindruck, selbst einer der Schüler zu sein, die mich auf der Empore umgaben. Aber dann merkte ich: Mich trennen Jahre – nein: Jahrzehnte! – von ihnen. Da kann man sich innerlich noch so jung fühlen, wenn alle um einen herum sehen: Da steht eine Mutter 40 plus, die sich für Basketball interessiert. In diesem Augenblick erschien meine Freundin Schneewittchen auf der Empore, die den Tag der offenen Tür mit ihrer Tochter besuchte, unsere Blicke trafen sich und ich sah, dass sie dasselbe dachte wie ich: Wir sind keine Schülerinnen mehr, wir sind die Mütter.

Ein ähnliches Gefühl kenne ich aus der Zeit, als meine große Tochter anfing, die Kita zu besuchen. Ich stand in der Garderobe und fragte mich, wer all diese Erwachsenen um mich herum sind: in langen Mänteln und Lederschuhen, irgendwie gesetzt. Ich hingegen in Daunenjacke und Sneakers, ganz und gar nicht gesetzt. Und dann erkannte ich: Ich bin eine von denen, ich bin erwachsen. Ich stehe hier, weil ich meine kleine Tochter in die Kita bringe, nicht sie mich.

Der bärtige Abiturient unterstrich an jenem Abend noch eine weitere Erkenntnis: Wenn meine große Tochter die Schule beendet, wäre sie mehr Frau als Mädchen. Sie würde hier als Erwachsene herausgehen, aus den Toren dieses Gymnasiums ins schöne Friedenau und von da aus höchstwahrscheinlich in die Welt. Vielleicht hätte sie einen bärtigen Abiturienten an ihrer Seite. Wie alt würde ich dann sein? 103?

Während meiner eigenen Kitazeit habe ich meine Freundin Goldlöckchen kennengelernt, das ist im Nachhinein betrachtet das unangefochtene Highlight dieser Jahre. Während meiner eigenen Schulzeit mochte ich vor allem den Deutschunterricht. Noch besser fand ich vielleicht die große Auswahl an Jungs und jungen Männern. Es gab etwa 550 Schüler, davon waren rund 275 männlich. Da war immer jemand dabei, den ich anhimmeln konnte. Mehr noch: ich war ein paarmal sehr verliebt. Und auch wenn meine Gefühle meist nicht erwidert wurden, denke ich gern daran zurück. Besonders schwärmte ich als Achtklässlerin für einen Abiturienten (siehe oben). Er trug keinen Bart, aber einen schicken waldgrünen Mantel (sehr erwachsen!), eine Brille und – wenn man es ganz genau nimmt – etwas schütteres Haar. Geschenkt! Ich fand ihn trotzdem toll. Als ich ihn das erste Mal ansprach, habe ich ihn gesiezt. Das ist mir noch heute ein bisschen peinlich. Reden wir nicht weiter darüber.

Jetzt wäre meine große Tochter mit dem Verliebtsein und Anhimmeln an der Reihe – aber sie tut es nicht. Zumindest weiß ich nichts davon. Entweder interessiert sie sich wirklich für niemanden oder sie hält es streng geheim. Letzteres könnte ich sogar verstehen. Der Umstand, dass sie nichts von sich erzählt, hält meine mittlere Tochter und mich allerdings nicht davon ab, in regelmäßigen Abständen nach Klatsch und Tratsch aus ihrer Klasse zu fragen. Vielleicht kommt ja dabei doch irgendwann eine entscheidende Information ans Tageslicht. Wenn wir uns nach Neuigkeiten erkundigen, kontert meine Große mit der Frage: „Habt ihr kein Privatleben?“ Habe ich, aber es ist leider nicht mehr mit der Art Herzklopfen verbunden wie ich es aus meiner Schulzeit kenne. Wenn mir heute das Herz bis zum Hals schlägt, denke ich an Herzrhythmusstörungen, frage mich, ob ich mal wieder ein Belastungs-EKG machen sollte – nur zur Sicherheit! –  und ob das vielleicht alles Spätfolgen von Corona sind: der eigenen Infektion oder den vergangenen zwei Jahren Pandemie, die mir alles in allem ganz schön zugesetzt haben.

Auf der Empore über der Schulturnhalle stellten die Jugendlichen Körperkontakt her, indem sie einander knufften oder scherzhaft rangelten. Sie setzten sich in Szene, so wie wir damals, nur dass wir vor 25 Jahren keine Handys in der Hand hielten, um Selfies mit wahlweise Kuss- oder Schmollmund zu machen. Manchmal finde ich es ein bisschen schade, dass ich das alles nicht nochmal erleben kann: mich mit weichen Knien am großen Schwarm vorbeischieben, das eigene Herz bis zum Hals klopfen spüren, auf dem Hof nur Augen für den einen haben. Und dann für einen anderen und dann wieder für einen anderen. Jugendliche sind ja nicht immer stetig und ich war es auch nicht. Aber vor meinen Töchtern liegt das alles noch. Und das freut mich sehr für sie – auch wenn ich vielleicht nie etwas von ihren Schwärmereien erfahre, weil ich sie nicht allzu sehr ausfragen kann. Schließlich habe ich ein Privatleben.

4 Kommentare zu „Zum letzten Mal: Mitschüler anhimmeln“

  1. Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum eigenen Blog, liebe Sophie! Ich freue mich schon sehr auf alle folgenden Einträge hier :-).
    Und jetzt zum eigentlichen Kommentar: Ja, da kommt bei mir auch die Erinnerung an meine Schulzeit wieder hoch. Als man sich ganz besonders auf diese paar Unterrichtsstunden freute in denen der Schwarm einem gegenüber saß und man sich ein Lächeln von ihm erhoffte :-).

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