oder: Einfach mal lockerlassen
Ich habe von Bewerbungsgesprächen gehört, in denen der Bewerber Fragen nach seinen persönlichen Stärken und Schwächen beantworten soll. Die Kunst besteht wohl darin, auch bei den Schwächen Eigenschaften oder Kompetenzen aufzuzählen, die eigentlich Stärken sind, so dass der Bewerber so wirkt, als hätte er keinerlei Makel. Wer zum Beispiel zerknirscht zugibt, er sei ein Workaholic, der disqualifiziert sich damit ja nicht, sondern kommt zumindest in die engere Auswahl.
Mir wurden noch nie solche Fragen gestellt, aber ich wüsste, was ich antworten würde, nämlich etwas in der Art: Meine Stärken stelle ich jeden Tag unter Beweis. Ich bin äußerst strukturiert und organisiert, vereinbare als Mutter dreier Kinder die Termine sämtlicher Familienmitglieder und behalte sie im Blick – die Termine ebenso wie die Kinder. Ich schaffe es, innerhalb kürzester Zeit alle mir übertragenen Aufgaben zu erledigen, und zwar, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Für Trödeleien jeglicher Art habe ich einfach keine Zeit. Außerdem verfüge ich über ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Wenn ich mir etwas vornehme, dann setze ich alles daran, es umzusetzen. Ich habe zum Beispiel vor einiger Zeit angefangen, mit einer Sprachlern-App Norwegisch zu lernen. Und seitdem habe ich jeden Tag geübt: es sind jetzt 99. Die App nennt das „Streak“ und ich möchte ihn nicht abreißen lassen, was dazu führt, dass ich manchmal in den absurdesten Situationen Sätze auf Norwegisch in mein Handymikrofon spreche – kürzlich zum Beispiel auf dem Rückweg vom a-ha-Konzert in der S-Bahn gegen 22.30 Uhr.
Meine Schwächen: Ich halse mir oft zu viel auf, ich bin ehrgeizig und perfektionistisch. Alles halb so schlimm oder etwa nicht? Was sich ein Arbeitgeber höchstwahrscheinlich zunutze machen könnte, geht mir manchmal schrecklich auf die Nerven. Ich neige nämlich dazu, ein ganz klein wenig zu verkrampfen. Vielleicht bin ich gelegentlich sogar verbissen. Und zwar leider auch in Dingen, die mir eigentlich Spaß machen sollten.
Mein Klavierlehrer sagte neulich zu mir, er hätte Schüler, die er zum Üben antreiben müsse. Bei mir müsse er dafür sorgen, dass ich mir nicht zu viel Druck mache. Er weiß, dass ich mich immer ärgere, wenn ich mich verspiele. Und je mehr ich mich ärgere, desto öfter verspiele ich mich. Die Lehre daraus: Ich müsste aufhören, mich zu ärgern, dann würde ich mich auch nicht so oft verspielen. Klavierspielen könnte also durchaus eine therapeutische Wirkung auf mich haben, zumindest eignet sich mein Lehrer zum Therapeuten. Einfach mal lockerlassen, das ist die Devise. Als meine Arme beim Spielen neulich immer kürzer und angespannter wurden und ich mich immer mehr übers Klavier beugte, sagte er, ich solle keine T-Rex-Arme machen. So sitze ich auch oft am Computer: mit T-Rex-Armen und -krallen. Ich muss das mal loswerden: diese Verkrampftheit.
Am vergangenen Freitag hatte ich meine erste Gesangsstunde, wieder so ein Termin, bei dem man sich am besten komplett fallen lässt. Den Mund beim Singen weit öffnen – vor einer Person, die ich wohlgemerkt kaum kenne! –, die Lippen entspannen, den Kiefer entspannen, die Schultern entspannen. Keine T-Rex-Arme machen, es sei denn, man möchte so aussehen wie Stevie Wonder. Mit dem hat mich mein Klavierlehrer übrigens auch schon mal verglichen. Da habe ich versucht, mit meinem Oberkörper locker hin- und herzuschwanken. Das war aber offenbar auch nicht richtig.
Das mit dem Gesangsunterricht klingt vielleicht nach Midlife-Crisis: Jetzt fängt die auch noch an, mit 43 singen lernen zu wollen. Aber eigentlich ist es genau andersherum. Über die Midlife-Crisis habe ich gelesen, dass sie sich vor allem aus einer Unsicherheit nährt: Menschen zwischen 35 und 55 sind unzufrieden und unsicher und stellen sich selbst und ihr bisheriges Leben in Frage. Nichts davon trifft auf mich zu.
Ich bin im Laufe meines Lebens viel sicherer mit mir und meinen Wünschen und Vorstellungen geworden und traue mich jetzt Dinge, zu denen mir bisher der Mut gefehlt hat. Oder aber: Ich versuche zumindest, mich zu trauen. Singen hatte ich schon längere Zeit auf meiner Wunschliste, deshalb habe ich kurzerhand meine kleinste Tochter Baby Boss dafür angemeldet und mich dann einfach selbst in eine Probestunde geschmuggelt. Warum, wusste ich nicht mehr genau, als ich vor dem Gesangslehrer stand und schon die einfachste Einsingübung nicht konnte: das Lippenflattern, auch Lippentriller oder Lip Trill genannt. Zu verspannt!
Ich verrate jetzt mal ein Geheimnis: Ich mache wahnsinnig ungern Sachen, die ich nicht gut kann. Ich wäre gern in allem ein Naturtalent. Natürlich weiß ich, dass das unmöglich ist. Es gibt nur wenige Universalgenies und ich gehöre definitiv nicht dazu. Ich weiß, dass die meisten Dinge jahrelange Übung erfordern. Das schreckt mich etwas ab. Mein Perfektionismus zwingt mich dazu, alles auf Anhieb fehlerfrei machen zu wollen. Wenn ich das nicht leisten kann, fühle ich mich unsicher und habe Sorge, mich zu blamieren. Und dabei weiß ich: Perfektionismus ist das absolute Gegenteil von Lockerlassen. Perfektionismus ist Verkrampftheit pur.
Die 45 Minuten, die mein erster Gesangsunterricht gedauert hat, waren die längsten meines Lebens. Naja, jetzt übertreibe ich mal wieder ein bisschen. Vor lauter Lippenflattern ohne Ton kam ich ins Hyperventilieren, den darauf einsetzenden Schwindel versuchte ich zu ignorieren. Nach den Einsingübungen durfte ich mir noch ein Lied aussuchen, das ich einstudieren möchte. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass ich ausgerechnet „Perfect“ von Ed Sheeran ausgewählt habe.
Ich konnte nicht einschätzen, ob mein Gesang vielleicht so klang, als wäre jemand einer Katze auf den Schwanz getreten. Wie Ed Sheeran habe ich mich jedenfalls nicht angehört. Dennoch: ich möchte es weiter versuchen! Vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm, nicht in allem perfekt zu sein. Ich denke, der T-Rex konnte es bestimmt auch nicht auf Anhieb: das Lippenflattern. Und ich stelle mir vor, dass er bei der Jagd bestimmt so geklungen hat, als wäre jemand einer Urzeitkatze auf den Schwanz getreten.
PS Was möchtet ihr noch lernen?
Wie schön frei, unverkrampft und ehrlich sich dafür deine Blogbeiträge für mich an anfühlen 🙂 und wunderbar, dass du so mutig bist, dich deinem inneren T-Rex zu stellen! Ich suche bei Gelegenheit mal meinen eigenen auf und führe ihn zum Tanz aus ;-).
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Liebe Anja, das ist ein wirklich schönes Bild: der innere T-Rex! Mein Mann und ich sprechen ja gern vom „Ferkelwelpen“, weil wir den Begriff „innerer Schweinehund“ so krass finden. Aber vielleicht steige ich jetzt begrifflich einfach auf T-Rex um.
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Ich fände es toll, spielend einfach neue Sprachen zu lernen, allein um die vielen bislang unverständlichen Gespräche auf den Berliner Straßen verstehen zu können!
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Das würde ich auch gern! Norwegisch zum Beispiel hatte ich mir einfacher vorgestellt. Bisher kann ich nur Sätze sagen wie: Ich habe eine Katze = Jeg har en katt. 🐱
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Herrlich, deine Bilder! T-Rex-Arme, ich musste so lachen. Ansonsten nur wow, Respekt! Ich kriege glatt ein schlechtes Gewissen. Und meine Midlife-Crisis, wenn es die ist, sieht auch anders aus als in deiner Definition. Auch ich stelle nicht mein bisheriges Leben in Frage. Aber vielmehr ist da der Zweifel: Und jetzt, was kommt noch? Leider fehlt mir der Enthusiasmus, vollkommen Neues zu lernen. Alles was ich bisher geleistet habe, nehme ich staunend zur Kenntnis und denke, das war doch nicht ich. Bei mir ist die Luft raus. Das ist meine Krise. Wie machst du das? Ich fiebere mit meinen Töchtern mit, bei dem, was sie lernen. Aber selbst etwas anzufangen … Ich wünsche dir viel Freude beim Lippenflattern, und bald beim richtigen Singen! 😊
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Liebe Anke, ich freue mich immer total, von dir zu lesen – hier und auf deinem Blog tuttopaletti.com. Das wollte ich dir echt mal sagen. 🙂
Die Frage „Was kommt jetzt noch?“ kann ich nachvollziehen. Lange hat sich in meinem Leben sehr viel um meine Töchter gedreht, das wird langsam weniger. Oh je! Aber das Schöne ist, dass wir unsere Kinder ja auch weiterhin begleiten und sie uns, auch wenn wir vielleicht zwischenzeitlich verstoßen werden. Und ansonsten bleibt uns eben umso mehr Zeit zum Schreiben. 😉
Fürs Lippenflattern habe ich übrigens einen Trick gegoogelt und kann es jetzt auch. Eine Sache weniger, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss.
Herzliche Grüße, Sophie
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Danke, liebe Sophie, das freut mich unheimlich. Mir geht es mit deinem Blog und deinen herzerfrischend ehrlichen Geschichten genauso, ich werde jetzt mal die E-Mail-Benachrichtigung reaktivieren, damit ich nichts verpasse. Was das elende Kopfzerbrechen angeht: Das kenne ich nur allzu gut, ich versuche das zu stoppen, indem ich an die Worte meines Vaters denke: Es gibt keine Probleme, nur Entscheidungen. Schritt für Schritt geht es dann weiter und meistens sogar gut. Sei gegrüßt bis demnächst hier oder bei mir. Ciao Anke
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Ich möchte nur kurz auf das Thema „Fremdsprache lernen“ eingehen.
Du schreibst, dass du bisher nur Sätze sagen kannst wie: Jeg har en katt = Ich habe eine Katze.
Mir geht es ähnlich – nur auf dänisch: Jeg har en kat!
Aber ich kann noch einen weiteren Satz : Jeg holder af dig, min lille datter.
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Das ist doch total schön: eine nordische Sprache lernen und im besten Fall zwei weitere verstehen! 🙂
Und was den letzten Satz betrifft, müsstest du mir jetzt nur noch sagen, was er genau heißt: Ich.. auf dich (?), meine kleine Tochter?
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Ja, die Sprachen sind ähnlich, Schwedisch kommt wohl auch noch dazu.
Was ich geschrieben habe heißt: Ich habe dich lieb, meine liebe, kleine Tochter. (Wobei das lille nicht unbedingt nur für klein steht, sondern für lieb und! klein.) Sonnige Abendgrüße von lillemor.
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