Nie wieder: Ein Kind bekommen

oder: Drei Engel für Mami

Vor einigen Jahren bin ich unverhofft in einer WhatsApp-Gruppe mit über 70 Teilnehmern gelandet. Eine ehemalige Schulfreundin, zu der ich damals kaum Kontakt hatte, war Admin und hatte die Gruppe erstellt, um in geselliger Runde die Geburt ihres fünften Kindes zu verkünden. Im Sekunden-, später im Minutentakt kamen Glückwünsche, die nicht nur bei der frischgebackenen Mutter, sondern bei allen Teilnehmern landeten, mein Handy klingelte also ohne Unterlass. Ich fand diese Art, eine Geburt anzuzeigen, ungewöhnlich, und wusste nicht, wie ich mich höflich aus der Gruppe lösen sollte. Viele Teilnehmer verließen den Chat recht schnell, mich machte das latent betreten, es kam für mich nicht in Frage. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Situation gelöst habe, vielleicht hat die Freundin selbst die Gruppe gelöscht.

Neulich bekam ich eine WhatsApp-Nachricht von ebendieser Freundin, von der ich zu diesem Zeitpunkt seit gut drei Jahren nichts mehr gehört hatte. Sie war nicht mehr in meinen Kontakten, ich hatte ihre Nummer irgendwann gelöscht, weil ich das Gefühl hatte, dass uns nichts mehr verband. In der Nachricht teilte sie mir mit, dass sie ein sechstes Kind bekommen hatte. Sie leitete die Geburtsanzeige mit einer Anrede ein („Liebe Sophie“) und nannte dann Namen, Geburtsdatum, Gewicht und Größe ihrer Tochter. Ich hatte nicht gewusst, dass meine ehemalige Schulfreundin überhaupt schwanger gewesen war und hätte eine kurze Einleitung nett gefunden. Sie fragte auch nicht, wie es mir geht. Die Nachricht in der Form fand ich fast noch befremdlicher als die Mitgliedschaft in der Gruppe von mehr als 70 Teilnehmern. Ich hatte den Eindruck, dass ich nicht wirklich als Adressatin gemeint war.

Dennoch oder vielleicht gerade deshalb hat mich die Nachricht nachdenklich gemacht. Sie hat Fragen aufgeworfen, die ich lieber unter Verschluss halte – in meinem persönlichen Giftschränkchen, das sich im hintersten Winkel meiner Seele befindet und in dem sich Fläschchen und Tiegel mit dunklen Gedanken, Sorgen und Ängsten türmen und all meine Neurosen Platz haben. Ich scheue mich davor, die Tür des Schränkchens zu öffnen.

Die Nachricht hat einen wunden Punkt getroffen. Vielleicht hat es mich deshalb geärgert, dass sie nicht eingebettet war in ein paar einleitende Worte, die ihr ein bisschen vom Schwung genommen hätten, mit dem sie mich getroffen hat. Ich hätte selbst gern noch mehr Kinder gehabt. Und ich frage mich manchmal, ob ich an meiner Bestimmung vorbeigeschlittert bin, indem ich mich nicht dazu habe durchringen können. Ich hätte gern den Mut aufgebracht. Ich hätte meine Bedenken, die weit mehr als das waren, gern vom Tisch gewischt, an dem zu diesem Zeitpunkt schon meine drei wunderbaren Töchter saßen, zwei davon auf Hochstühlen, und mich noch einmal auf die turbulente Reise einer Schwangerschaft begeben. Aber ich konnte es nicht.

Ich wäre gern reich gewesen, denn dann hätte sich zumindest mein Mann zu diesem Schritt entschließen können. Wir wussten beide: Wenigstens einer von uns hätte zu hundert Prozent überzeugt sein müssen, um den anderen mitreißen und dessen Sorgen auffangen zu können. Mein Mann hat sich um unsere finanzielle Zukunft gesorgt, ich mich in erster Linie um meine psychische Gesundheit. Ich hatte Angst vor einer weiteren Schwangerschaft, weil meine Zwangsstörung mit allen den mit ihr verbundenen abstrusen Sorgen und Gedanken, mit all ihren Ritualen und Unsicherheiten selten so raumgreifend gewesen ist wie während meiner Schwangerschaften. Dem wollte, dem konnte ich mich nicht noch einmal stellen. Was für ein Glück, dass ich es überhaupt dreimal geschafft habe. Meine drei Töchter sind das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist: drei Engel für Mami.

Wir vier teilen dasselbe Schicksal, manche sind mehr von den Zwängen betroffen als andere. Zurzeit beantworte ich viele Fragen eines meiner Mädchen, das sich Gedanken zu allem und jedem macht, leicht aus der Ruhe zu bringen ist und viel Rückversicherung sucht: „Ich habe gerade ein Schimpfwort über dich gedacht, ist das in Ordnung? Ich meine es ja gar nicht, es kommt einfach in meinen Kopf.“ „Das ist vollkommen in Ordnung“, antworte ich dann. „Solche Gedanken steigen einfach so in einem auf. Dafür kannst du nichts.“

Ich sehe es ihr an, wenn sich wieder Fragen in ihrem Kopf sammeln, ihr kleines Giftschränkchen quillt regelrecht über. Ich merke, wie sie darunter leidet. „Was ist, wenn ich eine andere Mami lieber habe als dich? Das HABE ich ja nicht, aber was ist wenn doch?“ „Das macht nichts. Ich weiß, dass du mich am liebsten von allen hast. Und wenn nicht, ist es nicht schlimm. Es reicht doch, dass ich dich so doll liebhabe.“ Es klingt alles so absurd, wenn ich es aufschreibe, und das ist es auch. Die absurde Welt von jemandem, der unter einer Zwangsstörung leidet. Es geht noch viel schlimmer, aber an einem solchen Punkt sind wir erfreulicherweise nicht. Mir gelingt es, die Sorgen für den Moment zu zerstreuen, bis neue Fragen kommen oder alte wieder gestellt werden müssen. Ich kenne das, mich haben auch immer dieselben Fragen verfolgt, vor allem in meinen Schwangerschaften: „Kann ich eine gute Mutter sein? Bin ich all dem gewachsen? Bin ich nicht vielleicht – tief in mir drin – ein schlechter Mensch? Einer, der besser nicht Mutter sein sollte?“

Meiner ehemaligen Freundin habe ich per WhatsApp zur Geburt ihres sechsten Kindes gratuliert. Zwei, drei Wochen später kam noch eine Geburtsanzeige per Post. Die Tür zu meinem inneren Giftschrank stand weit offen.

Wären wir Eltern einer weiteren Tochter geworden, hätten wir sogar schon einen Namen für sie gehabt.

6 Kommentare zu „Nie wieder: Ein Kind bekommen“

  1. Ein sehr berührender Beitrag, liebe Sophie. Ich schließe mich „zeitgeiststories“ an: Du hast großes Glück mit deinen drei wunderbaren Töchtern. Manche haben nur ein Kind, weil die äußeren Umstände ein weiteres verhindert haben. (Vielleicht ist ein solcher Umstand aber auch leichter zu akzeptieren…?)

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    1. Liebes Goldlöckchen, ich freue mich so sehr, hier von dir zu lesen!
      Das ist ein sehr kluger Gedanke: Vielleicht sind äußere Umstände manchmal leichter zu akzeptieren. Ich wäre in meiner Entscheidung ja eigentlich frei gewesen – und dann aber irgendwie doch ganz und gar nicht. Selten ist es mir so schwergefallen, die Grenzen hinzunehmen, die mir meine Zwangsstörung gesetzt hat.
      Eigentlich habe ich dieses Thema auch überwunden, nur manchmal steigt die Frage in mir auf, ob ich es nicht doch hätte wagen können und sollen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht überglücklich bin mit dem, was ich habe. „All I ever wanted, all I ever needed is here in my arms.“
      Herzliche Grüße! Deine Sophie

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  2. Liebe Sophie,
    dein Beitrag lässt wieder tief blicken. Schön, dass du das teilen kannst. Die Entscheidung für oder gegen Kinder ist nie leicht, denke ich. Vielleicht auch, weil es selten eine rein rationale Entscheidung ist. Und auch das „nicht abschließen können“ kenne ich gut. Uns wird ja auch von allen Seiten entgegen gerufen: „Da ist doch noch mehr drin.“ Wir sollen über uns herauswachsen, egal um welchen Preis.
    Ich glaube übrigens nicht, dass du deine Bestimmung verpasst hast. Ich denke, wir geben den Dingen selbst ihren Sinn. Und deine Worte zeigen, wie viel Sinn-Zusammenhänge deinem Leben entspringen.
    Herzliche Grüße an Dich und deine Lieben

    Gefällt 3 Personen

    1. Liebe ewa, „wir geben den Dingen selbst ihren Sinn“ hast du schon einmal zu mir gesagt. Ich habe es mir auf einen Zettel geschrieben, den ich lange Zeit mit mir herumgetragen habe. Die Worte haben mich damals wie heute gleichermaßen berührt. Vielen Dank dafür und für das Anteilnehmen. Herzliche Grüße zurück – an dich und die anderen! 🙂

      Gefällt 2 Personen

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