Zum letzten Mal: Als Erste am Bus warten

oder: Lass den Rockzipfel los!

Einer der vielen Vorteile, mehrere Kinder zu haben, liegt für mich darin, dass selbst dann noch viel los und der Abendbrottisch gut besucht ist, wenn eines nicht da ist. Aber das führt nicht etwa dazu, dass ich das eine Kind, das fehlt, nicht ganz schrecklich vermisse. Das tue ich nämlich, und zwar ganz unabhängig vom Alter. Es ist also nicht so, dass mir meine größte Tochter weniger fehlt, weil sie schon 14 Jahre alt ist. Als sie als Letzte von uns Fünfen und nicht mehr mit unserer Familieninfektion in Zusammenhang stehend Anfang Februar Corona hatte und sich so gut wie immer hinter geschlossener Tür in ihrem Zimmer aufhielt – aus Sorge vor einer Reinfektion aller anderen –, war meine Sehnsucht total groß. Ich befürchte, dass das vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das sein könnte, was demnächst noch kommen wird: Bleibt die Tür bald auch ohne ansteckende Krankheit geschlossen? In ein paar Jahren vielleicht? In ein paar Monaten? Oder – schluck! – etwa schon in ein paar Wochen? Wohin soll ich denn dann mit meiner Sehnsucht?

Meine kleinste Tochter – Baby Boss – war vor kurzem eine Woche auf Klassenfahrt. Naja, von Montag bis Freitag. Naja, bis Freitagvormittag. Als wir nach ihrer Rückkehr auf dem Weg vom Bus nach Hause waren, habe ich sie immer wieder umarmt, bis sie gesagt hat: „Ich war doch jetzt nicht ein Jahr weg.“ Daraufhin habe ich meine Umarmungen eingestellt.

Als Nächste fährt meine Große weg, da wird es voraussichtlich noch nicht einmal einen gemeinsamen Nachhauseweg vom Bus geben, einfach und allein, weil ich sie wahrscheinlich nicht abholen werde (obwohl ich es gern würde). Ich kann doch da nicht mit vorfreudig pochendem Herzen stehen, wenn sie vielleicht ihres auf der Fahrt an einen Mitschüler oder eine Mitschülerin verloren hat, was ich nie erfahren werde, weil ich ja nicht danach fragen kann, weil ich ein Privatleben habe. Es gibt im Leben eines Teenagers sicherlich Momente, in denen eine vorfreudig wartende Mutter einfach nicht mehr angemessen, quasi nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Ich hoffe, ich verpasse diese Entwicklung nicht. Falls jemandem das auffällt: Bitte Bescheid sagen!

Am vergangenen Freitag als meine Kleinste von ihrem Jahresaufenthalt in den USA zurückkehrte, ach, Entschuldigung, ich meine natürlich: als sie von ihrer Viereinhalb-Tage-Fahrt ins Berliner Umland nach Hause kam, stand ich als Erste am vereinbarten Treffpunkt und habe gewartet. Naja, zumindest als erste Mutter, ein Vater war sogar noch vor mir da. Aber der hat auch nur ein Kind, da hätte es mich nicht gewundert, wenn er vielleicht vor lauter Sehnsucht schon am Donnerstag dort gestanden hätte oder vielleicht sogar seit Montag. Der Bus sollte gegen 11 Uhr ankommen, ich erschien um 10.30 Uhr. In solchen Momenten möchte ich auf gar keinen Fall zu spät sein, weil ich mir kaum etwas Schlimmeres für ein Grundschulkind vorstellen kann, als nicht vorfreudig erwartet zu werden. Bei aller Eigenständigkeit, die man in den vergangenen Tagen gezeigt hat, wünscht man sich sicherlich doch, dass sich die eigene Mutter oder der eigene Vater aus der Traube von wartenden Eltern löst und einen in die Arme schließt – zumindest kurz.

Ich weiß nicht, ob ich erwartet habe, dass ich Baby Boss während ihrer Abwesenheit so vermissen würde. Aber ich hätte es ahnen können: Sie ist mein Nesthäkchen, ihr Spitzname Baby Boss sagt alles. Eigentlich lese ich ihr jeden Wunsch von den Augen ab, was aber nicht heißt, dass ich alle Wünsche erfülle. Wenn irgendetwas nicht nach ihrem Willen geht, zeigt sich, dass sie eine ziemlich kurze Zündschnur hat. Ein Widderchen eben, vom Sternzeichen her, meine ich. Ich habe den einen oder anderen Widder in meinem Freundeskreis, da knallen auch schon mal die Türen. Aber damit komme ich ganz gut klar, das ist wenigstens authentisch. Waagen wie ich neigen ja manchmal zum Weglächeln und Wegducken, das ist auch nicht immer der richtige Weg und geht manchen auf die Nerven – zu Recht.

Vor der Klassenfahrt herrschte große Aufregung bei Baby Boss und mir. Sie und ich waren noch nie so lange getrennt, das hat mich beschäftigt. Ihr ging es eher um Fragen wie: „Wir gehen ja auch in eine Disko. Was soll ich zum Anziehen einpacken?“ Wir haben gemeinsam ein hübsches blaues Kleid ausgesucht, das meiner größten Tochter gehört hat. Letztlich hat Baby Boss das aber nicht getragen, sondern ein T-Shirt von einer Freundin ausgeliehen. In der (Kinder-)Disko hat sie sich Lieder von The Weeknd und Michael Jackson gewünscht. Im Kiosk, der auf dem Gelände der Unterkunft liegt, hat sie sich ein Armband und eine „Sprite“ gekauft. So weit ist sie schon. Zuhause sitzt sie noch auf einem Stokke und isst mit einer Kuchengabel. Ich muss mal darüber nachdenken, ob das alles noch zeitgemäß ist.

Das Elternsein hält ziemlich viele Herausforderungen bereit. Mein Eindruck ist, dass sie noch dazu für alle Eltern recht verschieden sind: Was dem einen leicht fällt, kostet den anderen Nerven. Was manche mit links machen, ist für andere kaum lösbar. Neulich bin ich zum Beispiel daran verzweifelt, meiner mittleren Tochter französische Zöpfe für einen Turnwettkampf zu flechten. Kurz bevor ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit heulend zusammengebrochen wäre, habe ich aufgegeben. Ich weiß: Alle anderen Mütter können das! Nur ich kann es nicht! Ich denke darüber nach, einen Hairstylisten einzustellen.

Ich verbringe meine Zeit am liebsten mit meinen Töchtern. In keinem Moment, in dem ich mit ihnen zusammen bin, wäre ich gern woanders, sondern immer nur genau da, wo ich gerade bin. Das gilt sogar selbst dann, wenn sie wie jetzt gerade vor dem Schlafzimmer sitzen, in dem ich mich befinde und diesen Beitrag schreibe, und Supergirl mit Jimmys Stimme spricht und noch dazu ein Spiel auf dem Tablet läuft und die immer wiederkehrende Melodie das Zeug dazu hätte, einen in den Wahnsinn zu treiben.

Französische Zöpfe fordern mich heraus. Aber möchte jemand wissen, was mir von allen elterlichen Aufgaben am schwersten fällt? Das Loslassen.

12 Kommentare zu „Zum letzten Mal: Als Erste am Bus warten“

  1. Liebe Sophie, die Mutter in deinem Beitag könnte auch ich sein! Nur eben, dass ich nicht an französischen Zöpfen verzweifle, sondern an dem Versuch, alle Marvel-Charaktere und Geschichten zu kennen. Das muss ich nämlich, wenn ich am Frühstückstisch mitreden möchte. Das Loslassen ist auch für mich die schwierigste Aufgabe. Aber vielleicht kann man es ja auch in Mäuseschritten angehen😊Vielen Dank für den Beitrag.

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  2. Jemand Schlaues hat gesagt, der Hauptjob der Eltern bestehe darin, die Kinder darauf vorzubereiten, dass sie eines Tages ihre Eltern nicht mehr brauchen.
    Leider hat er keine Tipps gegeben, wie Eltern das Loslassen bewerkstelligen sollen… aber das ist schließlich auch ein Teil des Jobs, also wirst du es bestimmt super meistern!
    Danke für diesen tollen Blog.

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  3. Gut gemacht Sophie. Lieber zehnmal zu früh, als einmal zu spät. Ich bin selbst als Kind von meinen Eltern nach einer Reise am Bus nicht abgeholt worden und erinnere mich noch an jedes Detail. „Loslassen“ kannst du immer noch, wenn es soweit ist. Es grüßt der Follower

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  4. Zu früh stand ich selten am Bus. Wir sind Verspätungen bei der Rückkehr einfach zu sehr gewohnt, und nichts hasse ich mehr, als Zeit zu verplempern. 😉
    Beim Abholen von einem Tagesausflug kommen mir manchmal vor Rührung die Tränen. Nicht, weil ich das Kind so lange nicht gesehen habe, aber weil doch bei Bustouren, wie man in den Nachrichten hört, so „oft“ was passiert und wenn die vielen Kinder dann wohlauf eintreffen und schnatternd aus dem Bus quellen, fällt einem der Sorgenstein vom Herzen. Allerdings haben wir diese Momente jetzt das dritte Jahr lang nicht, nur in der ersten und zweiten Klasse gab es den Klassenausflug, dann kam Corona und selbst jetzt im fünften und letzten Grundschuljahr findet keine Fahrt statt. So schade für sie, Klassenausflüge sind doch immer aufregende Erlebnisse.
    Der Großen, fünfzehn, ist es schön länger peinlich, wenn man sie abholt. Am besten man versteckt sich irgendwo im Gebüsch oder noch besser, man parkt drei Ecken weiter an einem vereinbarten Treffpunkt. Irgendwann muss man gar nicht loslassen, man wird verstoßen. 😆

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    1. Das mit der Sorge verstehe ich voll und ganz. Ich bin auch immer froh, wenn unsere Kinder irgendwo wohlbehalten ankommen oder wieder zurück sind.
      Und dass sämtliche Fahrten nicht staffinden konnten, war in Deutschland leider auch so. Wirklich sehr schade!
      Heute ist meine größte Tochter mit ihrer Klasse nach Rügen aufgebrochen. Den Corona-Test, den sie morgens noch machen musste, wollte sie gar nicht anschauen vor lauter Sorge, infiziert zu sein. Es war dann aber alles in Ordnung. Verrückte Zeiten.

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      1. Na das ist doch schön, Rügen ist wunderbar und für die Jugendlichen sind die gemeinsamen Erlebnisse einfach wichtig. Gerade zum Abschluss der Grundschule gar nichts zu machen, finde ich enorm schade für unsere Kleine. Da sind sie nicht flexibel, das Schuljahr war leider wieder von Corona geprägt, und man will wohl für den letzten Monat die Regeln nicht mehr ändern.
        Hoffentlich hat deine viel Sonne und viel Freude! 🌞 Und du sorge dich bitte nicht. 😀

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      2. Meine Mittlere ist in der sechsten Klasse, das ist in Berlin das letzte Grundschuljahr. Sie war aus verschiedenen Gründen noch nie auf Klassenfahrt, natürlich war unter anderem Corona Schuld. Jetzt war eine Fahrt für Ende Juni organisiert. Vor ein paar Wochen wurde sie leider abgesagt, weil die Unterkunft Geflüchtete aus der Ukraine beherbergt. Dass es solche Unterkünfte gibt, finde ich natürlich total gut! Aber es zeigt nur nochmal deutlicher, in was für Zeiten wir gerade leben…

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  5. Zum 1. Mal: Als Letzte den Bus abfahren sehen.
    Es war die erste Gruppenfahrt im Kindergarten, die erste Trennung, du allein, ohne uns. Claudi und Rainer, die mit euch fuhren, hatten alle Eltern gebeten, sich schnell zu verabschieden, damit für Tränchen keine Zeit bleiben würde.
    Das habe ich auch ganz tapfer versucht! Aber – so meine Überlegungen – was passiert, wenn da irgendetwas nicht klappt?
    Kurzerhand habe ich mich im Gebüsch versteckt, habe alles genau beobachtet und habe, als alle eingestiegen waren, als Letzte den Bus abfahren sehen.

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    1. Ich mag diese Geschichte total gern, weil ich daran nämlich merken kann, wie lieb du mich hast. Ich bin tendenziell auch so jemand, der sich im Gebüsch verstecken würde, um sich zu vergewissern, dass alles glatt geht. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

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