oder: Sich in der Mitte treffen
Neulich sagte meine Freundin Goldlöckchen, dass sie nicht gern ins Freibad gehe. Ich habe nicht nachgefragt, warum. Nicht aus Desinteresse, sondern weil ich Goldlöckchen nicht hinterfrage. Wenn sie – im Gegensatz zu mir – nicht gern ins Freibad geht, dann wird sie dafür ihre Gründe haben. Die kann sie mir erzählen, aber sie muss es nicht tun. Natürlich ist es auch nicht wichtig: Magst du Freibäder oder nicht? Es wird einen kaum auseinanderbringen, wenn man in diesem Punkt verschiedener Meinung ist. Keine Freundschaft wird hoffentlich je daran zerbrochen sein, dass die eine wie wild durch das Becken pflügte, während die andere vor lauter Unwillen noch nicht einmal das Drehkreuz passiert hatte. Oder etwa doch?
Goldlöckchen und ich sind seit rund 40 Jahren befreundet. Sie ist neben meinen Eltern und meinem Bruder die Person, mit der ich am längsten durchs Leben gehe. Hand in Hand. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, wir können alles teilen, wir haben im Alter von etwa vier Jahren angefangen, miteinander zu reden, und tun es noch heute. Es gibt vieles, was unsere Freundschaft ausmacht. Und dazu gehört es, dass eine die andere so annimmt, wie sie ist: in all ihrer Besonderheit, mit all ihren Stärken, in all ihrer Verletzlichkeit, mit all ihren Schwächen. Gegensätze, verschiedene Meinungen gab es selten – und wenn, haben wir sie gemeinsam überwunden. Gemeinsam! Nie ging es um die Hürde, sondern immer nur um den Sprung.
Darüber habe ich nachgedacht, als ich neulich im Freibad war, mit Baby Boss und einer ihrer Freundinnen. Genau genommen war es die große Schwester der besten Freundin von Supergirl, wir waren mal alle zusammen auf dem Reiterhof: die beste Freundin, die große Schwester, Supergirl, Baby Boss, Belle und ich. Wir haben in Stockbetten geschlafen, hatten zweimal am Tag Reitunterricht und haben abends Stockbrot am Lagerfeuer geröstet oder anbrennen lassen. Es war einer meiner schönsten Urlaube. Dieses Jahr sind drei von uns nicht mitgefahren: die große Schwester, Baby Boss und ich. Irgendwie schien es mir folgerichtig, trotzdem etwas Schönes zusammen zu unternehmen.
Als wir mit unseren Fahrrädern am Schwimmbad ankamen, las ich auf einem Aufsteller, dass das Wasser 30 Grad warm sei. Die Heizanlage des Nichtschwimmerbeckens war wohl nicht in Ordnung und bollerte munter vor sich hin. Es fühlte sich an, als wären wir in einer hochpreisigen Therme, dabei war es das Sommerbad Wilmersdorf. Ich entspannte auf den Whirlpool-Liegen, danach schwamm ich einige Bahnen. Vielleicht hätte Goldlöckchen es auch genossen, vielleicht allein deshalb, weil wir Seite an Seite hätten schwimmen können. Ich stelle mir vor, wie sie im Wasser gejauchzt und gelacht hätte. Sie hat ein sehr einnehmendes, jugendliches Lachen, dabei wirft sie den Kopf in den Nacken und schlägt manchmal die Hände zusammen. Sie trägt oft Nagellack. Sie ist sehr schön und besonders. Aber sie weiß es nicht oder glaubt nicht daran.
Für mich ist sie ein Geschenk des Himmels. Ein Fixpunkt an meinem persönlichen Firmament. Es gibt so vieles, was ich an ihr schätze, dass ich damit ganze Bücher füllen könnte. Ich habe mich von unserer Freundschaft inspirieren lassen, als ich meinen Fantasyroman geschrieben habe. Zwei der Hauptfiguren – Viggo und Sixten – sind an sie und mich angelehnt.
Seit einiger Zeit treffen wir uns gern im Berliner Tiergarten, einem zentral gelegenen Park rund um die Siegessäule. Es hängt mit Corona zusammen, dass wir dort spazieren gehen. Treffen in Innenräumen waren eine Zeit lang irgendwie unsicher und fast schon verpönt. Der Tiergarten liegt ziemlich genau in der Mitte von unseren Wohnorten, deshalb haben wir ihn ausgewählt. Ich finde, das ist ein schönes Bild für unsere Freundschaft und überhaupt für jede zwischenmenschliche Beziehung: sich in der Mitte treffen.
Aber Goldlöckchen würde ich auch jederzeit bei ihr zuhause abholen. Denn darum geht es in einer guten Freundschaft auch: dass man in der Lage ist, den anderen abzuholen, dass er sich darauf verlassen kann, dass man viele kleine Schritte auf ihn zugeht – selbst dann, wenn es vielleicht Mühe macht. Eine Freundschaft ist nichts, was einfach vom Himmel fällt. Niemand kann erwarten, dass er oder sie nicht auch mal an der Freundschaft arbeiten muss, dass immer alles glatt läuft, dass es keine Missverständnisse und keinen Streit gibt. Entscheidend ist, wie man damit umgeht.
Mit Goldlöckchen habe ich wahrscheinlich auch schon mal gemeinsam in einem Stockbett geschlafen, vor vielen Jahren, als wir zusammen in der Kita waren. Das war in den 80ern. Wir haben Fahrten mit der Kita gemacht und waren mehrere Nächte von zuhause weg. Bestimmt haben wir in Stockbetten gelegen! Und vielleicht am Lagerfeuer gesessen.
Goldlöckchen und ich haben dieselbe Grundschule besucht und bis zur zehnten Klasse dasselbe Gymnasium. Dann waren wir beide im Ausland, sie in den USA, ich in Argentinien. Als wir zurückkamen, wechselte Goldlöckchen die Schule und machte woanders Abitur. Unsere Wege trennten sich nie.
Der Sommer geht zu Ende. Ich sehe es, wenn ich aus dem Fenster schaue. Die Kastanie gegenüber verliert ihre Blätter. Aber ich mag den Herbst. Goldlöckchen und ich sind im Oktober geboren, sie neun Tage später als ich im selben Jahr. Wir sind beide Waagen – muss ich mehr sagen? Dieses Jahr wird es wohl nichts mehr, aber vielleicht kann ich sie in der nächsten Saison zum Freibadbesuch überreden. Dann sitzen wir zusammen in Badehandtücher gewickelt auf einer Picknickdecke und essen mit tropfenden Haaren Pommes rot-weiß aus Pappschalen. Dafür hole ich sie gern von zuhause ab. Im nächsten Sommer und auch noch in vierzig Jahren.
Ein sehr schöner Text, liebe Sophie, du triffst wieder genau die Punkte. Wie schön das ist, von einer Freundschaft zu sagen: Nie ging es um die Hürde, sondern immer nur um den Sprung. Ich beneide dich ein klein bisschen um Goldlöckchen und die vielen Jahre mit ihr. Bei mir haben sich die Wege getrennt, und auch wenn mich mit einigen noch viel verbindet und ich sie als Freundinnen im Herzen trage, ist die örtliche Entfernung zu groß, wir sehen uns alle Jubeljahre mal, und dann spricht man am meisten von der gemeinsamen Vergangenheit. Jetzt noch neue Freundschaften zu schmieden, ist gar nicht einfach. Es fällt „im Alter“ wohl zunehmend schwerer, sich in der Mitte zu treffen oder den anderen auch mal abzuholen. Liebe Grüße Anke
PS: Ich geh auch nicht gern in Schwimmbäder. Tat es aber zuletzt mit und meiner Tochetr zuliebe, und es war gar nicht so doof. 😊
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Liebe Anke, ich freue mich mal wieder sehr über deinen Kommentar, die klugen und sorgsam gesetzten Worte. Dass Goldlöckchen und ich beide weiterhin und wieder in Berlin leben, macht es natürlich sehr viel leichter, die Freundschaft zu führen. Wir sprechen auch immer mal wieder von der gemeinsamen Vergangenheit, aber das sind bei uns eben schon rund 40 Jahre. Und es kommt immer wieder etwas Neues zu den gemeinsamen Erinnerungen dazu, vielleicht irgendwann auch mal eine Geschichte, in der ein Freibad eine Rolle spielt. 😉
Herzliche Grüße, Sophie
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Ein so liebevoller Text über Freundschaft! Und toll, dass du und deine Freundin euch gefunden habt…
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Diese liebevolle Beschreibung deiner langen und besondereen Freundschaft mit Goldlöckchen hat mir sehr gut gefallen … und ihr sicher auch. Es tut gut, wenn man jemanden hat, mit dem man sich so großartig versteht.
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