Zum ersten Mal: Stuhlkreis in der Psychiatrie

oder: Keiner flog über das Kuckucksnest

Ich war noch nicht oft in psychiatrischen Krankenhäusern. Zweimal, nehme ich an. Bei meinem ersten Besuch muss ich noch ein Kind gewesen sein. Ich erinnere mich nur dunkel an einzelne Szenen. Die Anmeldung beim Pförtner des Klinikgeländes. Das Büro meines Vaters. Lange Gänge. Türschleusen, die er akribisch verschloss. Es war ein Krankenhaus des Maßregelvollzugs, forensische Psychiatrie. Hier wurden Menschen behandelt, die nicht nur psychisch krank waren, sondern darüber hinaus Straftaten begangen hatten und in der Klinik „untergebracht“ waren, wie mein Vater immer sagte. Menschen, die nicht im Gefängnis gelandet waren, dort nicht landen durften, weil sie bei ihrer Tat aufgrund ihrer psychischen Erkrankung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren.

Lange Zeit wusste ich nicht, was das bedeutete. Ich begriff es erst später, aber immer noch zu früh. Als ich älter wurde und mein Vater von seiner Arbeit erzählte, waren das die schlimmsten Schauergeschichten, die ich je gehört hatte. Nur, dass sie echt waren. Mein Vater therapierte Mörder, Brandstifterinnen, Vergewaltiger. Und viele mehr. Es sind Geschichten, die ich nie vergessen werde.

Ich würde sagen, dass es einige Nachteile für mich hatte, dass mein Vater als Psychologe gearbeitet hat. Manchmal litt mein Seelenheil darunter. Aber es hatte auch Vorteile. Bei uns zuhause gehörten psychische Erkrankungen zur Tagesordnung. Und zwar die allerschwersten Formen. Wer da nur mit einer Zwangsstörung am Tisch saß, der brauchte sich keine Sorgen zu machen. Es war nicht schlimm. Psychisch krank zu sein, war kein Tabu. Man musste sich nicht verstecken und die Diagnose gab es zum Nachtisch. Das war gut für mein Seelenheil.

Ich glaube, es gibt kaum etwas Schlimmeres für Kranke, als ohne Diagnose zu sein. Denn wenn man eine hat, ist man automatisch nicht mehr allein. Selbst die seltenste Störung betrifft auch irgendjemand anderen auf der Welt. Außerdem hilft eine Diagnose dabei, die richtige Therapie zu finden. Das gilt nicht nur für psychische Erkrankungen.

Einige Jahre litt ich unter immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen, mal stärker, mal schwächer. Der Schwindel trat oft ein, wenn ich längere Zeit eher regungslos gesessen hatte, zum Beispiel am Computer. Er packte mich sehr heftig, manchmal wurde mir richtiggehend schwarz vor Augen, ein Gefühl, vor dem ich mich zu fürchten begann. Wenn ich die Haltung aufgab, hörte der Schwindel auf.

Die richtige Diagnose zu finden, dauerte lange. Es vergingen Monate, sogar Jahre, bis ganz klar wurde, was das Problem ist. Zweimal war ich beim MRT, um mein Gehirn scannen zu lassen, später kamen Aufnahmen der Halswirbelsäule dazu. Ich war beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, beim Orthopäden und beim Psychiater. (Warum ich bei Letzterem gelandet war, ist mir im Nachhinein allerdings ein Rätsel.). Ich schilderte ihm meine Symptome, zum Beispiel das Gefühl, nicht richtig ausgerichtet zu sein, beim Laufen einen Drall nach links zu verspüren. „Vielleicht haben Sie Angst, vom richtigen Weg abzukommen“, sagte der Psychiater. Ich kannte solche Anmerkungen von zuhause. Trotzdem ärgerte ich mich ein bisschen. Denn ich hatte keine Angst, vom richtigen Weg abzukommen. Am Ende stellte sich heraus, dass ich Probleme mit meiner Halswirbelsäule habe.

Neulich war ich wieder in der Psychiatrie. Ich saß bei einer Infoveranstaltung in einem Stuhlkreis. Ein Psychologe stellte die Tagesklinik vor. Ich war zwar nicht zufällig oder irrtümlicherweise dort, aber es ging nicht um mich. Ich war als Begleitperson mitgekommen. Dennoch machte es mich latent nervös, im Stuhlkreis zu sitzen. Wie es wohl den anderen ging, die nicht nur als Begleitperson dort waren? Wer waren die überhaupt? Wer geht zu so einem Infonachmittag? Wer sucht nach einem Platz in der Tagesklinik? Wenn ich mich umschaute, hätte ich genauso gut in der U-Bahn sitzen können. Die Menschen waren ein Querschnitt der Gesellschaft, sahen aus wie du und ich, also vor allem total normal. Was hatte ich erwartet? Akribisch verschlossene Türschleusen? Menschen, die fahrig über lange Flure hasten? Natürlich nicht. Keiner flog über das Kuckucksnest.

Drei Besucher der Infoveranstaltung kamen zu spät (der Ort war nicht leicht zu finden gewesen), darunter ein attraktiver Mann im T-Shirt, das seine tätowierten Arme freigab. „Warum der wohl hier ist?“, schoss es mir durch den Kopf. Er sah nicht so aus, als ob ihn irgendetwas umhauen könnte. Ebenso wenig wie die anderen: eine junge Frau mit Basecap, die fragte, ob sie neben dem Aufenthalt in der Tagesklinik einem Minijob nachgehen könne. Ein junger Mann, ein Abiturient vielleicht, der die ganze Zeit interessiert zuhörte. Eine junge Mutter, die die Sorge hatte, ob es zeitlich klappen würde, ihre Kinder morgens vor Beginn der Therapie in die Kita zu bringen. Insgesamt waren wir rund zwanzig Personen unterschiedlichen Alters, jede und jeder mit seiner eigenen Geschichte. Wir erfuhren, dass hier Depressionen, Ängste und Zwänge behandelt würden, keine Suchterkrankungen. Niemand verließ nach dieser Aussage den Raum. Es hätte mich interessiert, wer von den Anwesenden einen Therapieplatz wegen einer Zwangsstörung suchte. Ich hätte mich gern mit ihr oder ihm ausgetauscht.

Ich fragte mich, wen es Überwindung gekostet hatte, hier aufzutauchen. Ob die anderen, gerade erst angekommen, ebenso wie ich einen Fluchtimpuls verspürt hatten und dennoch geblieben waren. Ob sie offen mit ihrer Erkrankung umgingen oder sie vor anderen versteckten. Ich fragte mich, warum psychische Störungen nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu sind, warum sich viele schämen, warum viele meinen, dass es eine Schwäche wäre, psychisch krank zu sein. Ich fragte mich, was geschehen muss, um das zu ändern.

Ich sitze nicht gern in Stuhlkreisen. Jeder kann mich sehen, ohne sich umzudrehen oder den Kopf zu recken. Ich fühle mich ein bisschen wie auf dem Präsentierteller, ohne etwas präsentieren zu wollen. Ich spreche nicht gern vor anderen Menschen. Außerdem fällt es mir schwer, auf Stühlen mit kurzer Rückenlehne längere Zeit bequem zu sitzen. Ich muss mich ständig bewegen, weil ich Sorge habe, mir könnte schwindelig werden. Ich möchte nicht, dass andere meinen Schwindel bemerken. Packt er mich, während ich unter Leuten bin, gehe ich in 99 Prozent der Fälle kommentarlos darüber hinweg und tue so, als ob nichts gewesen wäre. Ich weiß nicht, wieso das so ist. Vielleicht möchte ich nicht, dass sich jemand um mich sorgt.

Obwohl es in gewisser Weise herausfordernd war, mit allen zusammenzusitzen, hätte ich mich außerhalb des Kreises unwohler gefühlt. Für den Fall, dass wir etwas über uns hätten sagen sollen, hatte ich mir schon Stunden vor der Veranstaltung etwas zurechtgelegt. Ich hätte erzählt: „Ich bin nur als Begleitperson hier. Aber ich habe eine Zwangsstörung. Ich bin also hoffentlich keine Außenseiterin.“ In der U-Bahn hätte ich das nicht gesagt.

3 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Stuhlkreis in der Psychiatrie“

  1. … warum man nicht offen damit umgeht, wenn man eine psychische Erkrankung hat, liegt doch klar auf der Hand, weil es immer noch ein Stigma ist. weil es noch immer so viel Unwissenheit gibt, weil man es einem nicht ansieht wenn man seelisch krank isz, Du hast es in Deinem Beitrag selbst sehr gut beschrieben Deine Gedanken das man es den Menschen nicht ansieht usw. usf. Hinzu kommt das man mit bestimmten ICD Diagnosen im psychischen Bereich von bestimmten Zusatzversicherungen ausgeschlossen ist, also mir fallen da viel, viele Gründe ein. Den Betroffenen geht es oft schon sehr schlecht, da ist halt mitunter keine Ressource mehr vorhanden um noch zusätzlich mit dem Problem des Stigmas kämpfen zu können, wenn man sich outet.

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    1. Liebe Holla die Waldfeen, ich wünschte wohl einfach, es wäre kein Stigma beziehungsweise würde nicht als solches empfunden werden. Das ist der Punkt. Die meisten anderen Erkrankungen sind ja auch nicht mit einem Stigma verbunden. Manchmal kommt es mir so vor, als sei man mit psychischen Störungen gleich doppelt gestraft.
      Vielen Dank jedenfalls für deinen Kommentar! Er hat mich nochmal mehr zum Nachdenken gebracht.
      Herzliche Grüße!

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      1. Fuchtelwink ,-)

        Wir haben diverse ICD Schubladen auf dem Papier diagnostiziert.

        Im Arbeitsleben reicht schon einer dieser Schlüssel, das abwertend geredet wurde von Vorgesetzten und Kollegen. Mit dieser wird durchaus offen umgegangen wenn es halt im Kontext passt. Mit der sagen wir mal Hauptdiagnose wird es voraussichtlich keinen so offenen Umgang geben. Das wissen nur ausgewählte Personen, weil zu der DIS Diagnose noch viel zu viel Unwissenheit herrscht und Vorurteile die so unfassbar sind, da würde man sich das Leben noch viel viel schwerer machen als es ohnehin schon ist. Bis wir so weit sind wird es noch sehr lange dauern.

        Das Umfeld spielt da natürlich eine große Rolle.

        Es gibt ja heute noch Menschen, die glauben psychische Erkrankungen gäbe es nicht, die auch eine Depression anzweifeln, was man nicht sieht das gibt es halt für manche Menschen nicht.

        Niemand ist davor geschützt seelisch zu erkranken, das kann jedem passieren. Wenn die Menschen sich das klar machen würden, käme ihre Sicht auf das Leben vielleicht ins wanken, weil schlimme Dinge passieren doch immer nur den anderen.

        Ja, diese Stigmatisierung ist schlimm, der Wunsch das dies aufhört ist auch hier vorhanden.

        Vielleicht ist es auch die Angst, welche dieses Stigma am Leben hält.

        Solange man funktioniert und ein produktiver Teil der Gesellschaft ist, ist alles gut, sobald man nicht mehr funktioniert wie gewünscht wird es schwierig. Wenn man bedenkt das selbst auf körperlichen Behinderungen noch so viele Stigmas liegen, wird es noch ein langer Weg sein in Bezug auf die entstigmatisierung von seelischen Erkrankungen!

        Meine rein subjektive Meinung.

        😘

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