Immer wieder: Sind Tamagotchis hochsensibel?

oder: Bis einer weint

Mein Vater ist Psychologe. Ich frage mich, ob ich das so schreiben kann, wo er doch nicht mehr arbeitet. Einige Berufsbezeichnungen scheinen an einem haften zu bleiben, auch wenn man seinen Beruf schon lange an den Nagel gehängt hat. Ärzte, Juristen, Psychoanalytiker bleiben ihr Leben lang Ärzte, Juristen und Psychoanalytiker. Fühlt sich zumindest so an. Aber würde ein U-Bahnfahrer nach seinem Renteneintritt noch von sich sagen: „Ich bin U-Bahnfahrer“? Ich weiß es nicht. Ich finde, in einer Gesellschaft sind alle Berufe von Bedeutung, also müssten alle Bezeichnungen haften bleiben – oder eben nicht.

Muss ich also schreiben, dass mein Vater Psychologe war? Diese Frage hat mich bisher davon abgehalten, den Beitrag zu schreiben. Das ist wahrscheinlich wirklich albern, aber wenn ich schon selbst über meinen ersten Satz stolpere, wie soll es denn dann anderen gehen? Also nochmal: Mein Vater ist/war Psychologe und ich denke, das hat mich sehr geprägt.

Ich bin jemand, der sehr genau hinschaut: bei sich selbst, aber auch bei anderen. Ich versuche, ganz genau zu ergründen, was in mir vorgeht. Ich weiß gar nicht, ob das nötig ist, aber ich habe es mir so angewöhnt. Eigentlich glaube ich, dass vieles, was einen ausmacht, auf der Hand liegt und sich nicht versteckt. Ich denke, dass ich mich schon vor langer Zeit mit all meinen Macken und Neurosen komplett erfasst habe. Manche Menschen halten mich vielleicht für kompliziert oder sogar für schwierig. Aber ich denke, ich bin relativ einfach gestrickt. Im Grunde genommen bin ich so leicht handhabbar wie ein Tamagotchi. Kann sich noch jemand außer mir daran erinnern? An diese virtuellen Mini-Computer-Küken, um die man sich wie um ein echtes Haustier kümmern musste? Nein?!

Alles, was ich brauche, um zu funktionieren, sind ausreichend Streicheleinheiten (ab und zu fragen, wie es mir geht, eine Runde spazieren gehen, sagen, dass man mich liebhat), gutes, regelmäßiges Essen (vor allem Kohlenhydrate, sonst bekomme ich schlechte Laune) und ausreichend Schlaf.

Aber obwohl ich so einfach ticke wie ein Tamagotchi, beobachte ich mich immer wieder selbst. Ich glaube, ich muss kurz erklären, warum das so ist. Mein Vater hat während meiner Kindheit und Jugend immer wieder bestimmte Sätze wiederholt, einer davon war: „Schau‘ doch nochmal genau bei dir nach.“ Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Ich hatte eine wichtige Erkenntnis über mich oder das Leben gewonnen und teilte sie mit ihm. Er hörte sich alles an, dann legte er die Stirn in Falten und sagte: „Schau‘ doch nochmal genau bei dir nach.“ Lange Zeit wankte und schwankte ich deshalb sehr mit meinen Erkenntnissen und sah hinter allem unergründliche Geheimnisse, vielleicht sogar Gespenster. Also auch in mir selbst. Das war nicht immer leicht für mich. Aber das soll keine Kritik sein, weder versteckt noch offen. Jetzt, wo ich selbst Kinder habe, merke ich, wie schwer es manchmal ist, sie zu bestärken und nicht zu verwirren.

Ich mag Psychologen, aber irgendwie sind sie mir auch – bis auf wenige Ausnahmen – ein bisschen unheimlich. Sie scheinen immer mehr über mich zu wissen als ich selbst. Manchmal wissen sie auch Dinge über mich, die gar nicht stimmen. Es ist schwierig, sie wieder davon abzubringen.

Neulich sagte mein Vater zu mir, ich wäre bestimmt eine gute Psychologin geworden. Das hat mich gefreut. Aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich hätte ein großes Problem in diesem Beruf, ich muss nämlich sehr oft weinen. Ich kann das leider nicht steuern. Ich bin einfach unkontrolliert weichherzig und nehme das Leid anderer in mir auf. Weint mein Gegenüber, muss ich mitweinen. Das begleitet mich eigentlich schon mein ganzes Leben. Ich glaube nicht, dass das eine gute Eigenschaft für eine Psychologin ist. Zieht es den Patienten nicht total runter, wenn der Therapeut ständig mit den eigenen Tränen zu kämpfen hat? Wenn er vielleicht betroffener ist als der Patient selbst?

Meine beiden jüngeren Töchter haben mir neulich erzählt, dass sie manchmal weinen müssen, wenn in unserer Serie etwas Trauriges passiert. Das hatte ich noch nicht bemerkt, vielleicht bin ich damit beschäftigt gewesen, meine eigenen Tränen wegzublinzeln, und denke jetzt, dass das natürlich nicht nötig ist. Es ist auch nicht so, dass ich meine Gefühle verstecke, ich weise nur nicht ständig darauf hin. Vielleicht geht es meinen Töchtern ähnlich, vielleicht wollen sie ihre Tränchen für sich vergießen und/oder wegblinzeln. Vielleicht würde es die Sache schlimmer machen, wenn wir uns gegenseitig in die traurigen Gesichter schauen. Meine kleinste Tochter sagte neulich, sie müsse weinen, wenn ich es tue. Vielleicht reicht es uns also als Trost, dass wir gemeinsam unter einer Decke sitzen, die meine Mutter gestrickt hat: vier kleine Tamagotchis, zerrupfte Hühnchen, die sich aufs Sofa quetschen und „Heartland“ schauen.

Ich weine übrigens nicht nur wegen tatsächlich bestürzender Dinge, sondern oft auch nur, weil mich etwas berührt – und das passiert sehr schnell. Zum Beispiel beim Musikhören, bei Auftritten meiner Mädchen und bei Disneyfilmen. „Dumbo“ kann ich leider nicht mehr anschauen, weil es einfach fürchterlich ist, wenn er von seiner Mutter getrennt oder wegen seiner Ohren gehänselt wird. Dazu fällt mir ein Erlebnis mit meiner jüngsten Tochter ein. Wir haben nämlich mal den Fehler gemacht, den Film „Benji“ zu schauen, in dem es um einen Hund geht, der anfangs auch von seiner Mutter und seinen Geschwistern getrennt wird – meine Kleinste hat Rotz und Wasser geweint! Ganz klar: FSK 18!!!

Außerdem rührt es mich, wenn meine große Tochter Klavier spielt, zurzeit ist es Gymnopédie Nr. 1 von Erik Satie. Dann schleiche ich mich in den Flur und lausche heimlich und denke mir, was es für ein Glück ist, Kinder durchs Leben begleiten zu dürfen.

Ich glaube, dass ein gewisses Maß an Empathie die Grundvoraussetzung dafür ist, eine gute Psychologin/ein guter Psychologe zu sein. Aber man muss sich auch abgrenzen können. Und das fällt mir schwer.

Ich kann auch nicht gut vergessen oder verdrängen, würde als Psychologin wahrscheinlich ständig am Rockzipfel eines Supervisors hängen. Ich frage mich, warum das so ist. Mitweinen, sich nicht abgrenzen können. Bin ich vielleicht doch komplexer als gedacht? Vielleicht sogar schwierig? Ein hochsensibles Tamagotchi? Am besten ich schaue bei Gelegenheit nochmal genau bei mir nach.

4 Kommentare zu „Immer wieder: Sind Tamagotchis hochsensibel?“

    1. Lieber zeitgeiststories, danke für dein Feedback! Und wegen der Psychologen: Ich habe ja geschrieben, dass mir nicht alle unheimlich sind. Es steht jeder/jedem frei, sich dort einzuordnen. 😉 Liebe Grüße, Sophie

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  1. Was das Weinen betrifft, sitzen wir also nebeneinander nicht dicht am, sondern schon im Wasser. 🤦‍♀️ Ich mache den Mutterinstinkt für diese Empfindlichkeit verantwortlich, es ging bei mir wohl in der ersten Schwangerschaft los. Doch dachte ich auch, das gibt sich wieder, wenn die Kinder „aus dem Gröbsten“ raus sind. Aber nein, die Heulsusigkeit (Wortschöpfung?) bleibt. Aber wenn ich wählen sollte, lieber hartgesotten zu sein und überhaupt nicht mitzuleiden, oder so, dann lieber so. Und oft ist es ja auch positive Rührung, wie in deinem Beispiel, wenn man den Kindern bei etwas zusieht, was sie gerne tun.
    Und nein. Tamagotchis kannte ich, generationsbedingt, nur vom Hörensagen (zum Glück 😂).
    Mitfühlende Grüße, Anke

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    1. Liebe Anke, ich war schon immer so, auch als Kind und Jugendliche. Ich kann mich zum Beispiel noch an Filme erinnern, die mich total berührt haben, oder an Nachrichten aus der Zeit, Titelseiten von Zeitungen oder Artikel. Habe ich bis heute nicht vergessen. 😳
      Ich freue mich immer über deine Kommentare. Liebe Grüße nach Italien! Sophie

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