Zum ersten Mal: Schreiben mit Alexa

oder: Über meine Eltern

Ich finde es bemerkenswert, dass ausgerechnet das Wort „Mama“ kaum Gefühle in mir auslöst. Es sagt mir nichts, ich habe keinen Bezug dazu. Im Großen und Ganzen natürlich schon, ich höre den Begriff ständig. Aber ich selbst habe ihn nie benutzt, und meine Kinder sagen „Mami“ zu mir, eines der schönsten Wörter der Welt (es verliert die Schönheit für einen Moment, wenn ich es innerhalb einer Stunde zum 376. Mal höre). „Mami“ klingt in meinen Ohren ganz anders als „Mama“: liebevoll, weniger streng, fast ein bisschen niedlich. Ich bin gern eine Mami.

Meine Eltern sind in Sachen Erziehung von den Idealen der 68er-Bewegung ausgegangen. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich dazu gelesen: „Antiautorität war das Schlagwort der 68er-Bewegung und damit wurden radikal alle traditionellen Erziehungsmodelle in Frage gestellt …  Die Erziehung von 1968 hat den Akzent auf die kindliche Freiheit gelegt und den von Erwachsenen ausgehenden Zwang kritisch reflektiert.“

Aus mir unerklärlichen Gründen gehörte zu dieser Art der Erziehung, dass die Eltern ihren Kindern anboten, sie beim Vornamen zu nennen. Aus nachvollziehbaren Gründen habe ich dieses Angebot ausgeschlagen und mir gemeinsam mit meinem Bruder Spitznamen für meine Eltern ausgedacht, deren Herleitung mir Rätsel aufgibt. Ich sprach sie also nicht mit Vornamen an, besuchte dennoch einen Kinderladen und durfte mir Grenzen weitestgehend selbst setzen. In der Theorie zumindest. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: „Wesentliches Ziel der Erziehung in den Kinderläden war die Erziehung zur Kritikfähigkeit, zur Selbstbestimmung, zur Ich-Stärke und zur Selbstregulierung.“ Ich-Stärke? Kritikfähigkeit? Selbstregulierung? Ich muss mal meinen Bruder fragen, ob das bei ihm geklappt hat.

Was das alles mit Alexa zu tun hat? Darauf komme ich jetzt und verorte das Geschehen erst einmal in Raum und Zeit, was einer meiner vielen Lernerfolge in ihrem Seminar war:

Am vergangenen Wochenende habe ich in Hamburg den Kurs „Der Weg zum eigenen Kinderbuch“ besucht, den die Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange geleitet hat. Ich hatte große Erwartungen daran, und ich versuchte, mich ein bisschen davon abzubringen, damit ich später nicht enttäuscht wäre, falls es doch nicht so super-duper wäre, wie ich es mir ausmalte. Das ist ein alter Trick von mir, der fast nie wirkt. Diesmal machte es nichts aus, weil mir bereits nach ein, zwei Stunden – eher noch nach zehn Minuten – klar war: Selbst nach dieser kurzen Zeit hatte sich das Seminar schon vollständig bezahlt gemacht.*

Ich kann eigentlich nicht in Worte fassen, was mich im Einzelnen alles so begeistert hat. Geht hin! Schaut selbst! Es war die Gesamtheit der Dinge, all das Erhellende und Inspirierende, das Alexa uns nicht nur erklärt hat, sondern mit uns teilte. Es waren die zahlreichen Schreibübungen, die mich aus meiner Komfortzone rissen und in meine Kindheit katapultierten, die auch durchaus komfortabel war, aber eben nicht nur. Wohnt es nicht der Kindheit ohnehin inne, auch mal oder vielleicht sogar oft unbequem zu sein, wenn man sich permanent selbst häuten muss, um für den immer größer werdenden Körper und Geist Platz zu schaffen? Geliebtes hinter sich lässt: Kuscheltiere, Playmobilfiguren, Lesefibel. Um ständig Neues in sein Leben zu integrieren: erste Verliebtheit, BHs, Whiskey Cola. Eine Kursteilnehmerin stellte in einer der Pausen die Frage in den Flur: „Ist die Kindheit nicht immer irgendwie traumatisch?“

Zurück zu Alexa, die dieses Seminar so einzigartig gemacht hat. Manchmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich sie anstarrte, während ich versuchte, all das, was sie sagte, in mir und in meinem kleinen orangefarbenen Schreibheft festzuhalten. Sie hatte so etwas Einnehmendes, Authentisches. Eine Präsenz, wie ich sie nur selten bei jemandem erlebt habe. Sie war wohlwollend, aber fordernd, klug, wertschätzend, geduldig, offen. Was fällt mir sonst noch zu ihr ein? Kleid in Pink mit aufgedruckten Katzenköpfen, lila Sweater, rote Locken. „So begeistert hast du zuletzt von Mady Morrison erzählt“, sagte mein Vater später.

Eine der Schreibübungen hatte damit zu tun, bestimmte Begriffe in einer Geschichte unterzubringen. Und jetzt komme ich endlich auf das Wort „Mama“ zurück und versuche, die losen Enden zusammenzubringen.

Ich war ja in einem Seminar, in dem es um das Schreiben von Kinderbüchern ging. Trotzdem strudelte ich mit „Mama“ und den anderen Worten gefühlt erst in die falsche, dann aber in die absolut richtige Richtung. Ich schrieb als Einzige keinen Text für ein Kinderbuch, sondern über meine Familie. Ich erklärte darin, warum ich nicht „Mama“ sage und welche Rolle mein Bruder in meinem Leben spielt, der mich immer und vor allem beschützen wollte. Der bestimmt irgendeinen Abwehrzauber parat hatte, der nicht nur gegen die Schatten an der Wand, das Monster unter dem Bett und aufdringliche Verehrer geholfen hätte (die nie bei mir vorstellig wurden … ach so! Es war der Abwehrzauber! Na, schönen Dank auch!).

Die Schatten an der Wand und das Monster unter dem Bett – ich erkenne die Klischees und möchte mich bei Alexa dafür entschuldigen. Und falls du das hier liest: Ich danke dir für alles, was ich am vergangenen Wochenende übers Schreiben, über mich und über dich lernen durfte. Selbst, wenn ich von heute auf morgen mit der Schreiberei aufhören würde (was ich nicht vorhabe), würde ich mit all den gewonnenen Erkenntnissen total aufgeräumt und beseelt zurückbleiben.

Ich habe lange nicht mehr so viel an meine Kindheit gedacht, wie am vergangenen Wochenende. Und jetzt frage ich mich: Sollten Kinderbuch-Schreibende das nicht ständig tun? An die eigene Kindheit denken? Oder – vielmehr noch! – sie fühlen? Und warum habe ich das nicht getan? Oder zumindest nicht genug?

Ich habe Alexa gebraucht, die uns nicht nur erklärt, sondern hat fühlen lassen, was daran so wichtig ist.

PS Meine Eltern gehören zu meinen größten Fans, was mich bestärkt und rührt. Die beiden wollten mir das Seminar eigentlich schenken, weil ich kurz davor Geburtstag hatte. Ich fand das als Geschenk zu viel und meinte: „Das ist total lieb, aber ich kann es nicht annehmen.“ Meine Mutter hat nichts weiter dazu gesagt. An meinem Geburtstag kamen meine Eltern nachmittags zu uns zu Besuch und hatten einen Blumenstrauß und ein Geschenk dabei. Es war ein Buch von Alexa Hennig von Lange: Die Weihnachtsgeschwister. Und zwischen den Seiten im Buch verteilt steckten Geldscheine, nicht viele, aber große.

* Sofern das jemand als Werbung empfindet, so ist sie jedenfalls wie immer unverlangt und unbezahlt. Ich musste das einfach loswerden, weil ich eine fantastische Zeit hatte und das gern teilen wollte.

7 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Schreiben mit Alexa“

  1. Liebe Sophie, ich freue mich mit dir, dass dein Seminar dir so gutgetan hat. Wie kann man sich in Kinder hineinversetzen, um für sie zu schreiben? Klar, man muss sich an die eigene Kindheit erinnern, und an die des Bruders, der engsten Freundin … auch Fotos von damals sind eine gute Hilfe dabei, speziell für die sehr frühe Kindheit. (Diese Empfehlung gab uns mein Seminarleiter. 🧐) Ich wünsche dir eine spannende innere Rückschau, dass du viele Gefühle wiederentdeckst, die du dann deine kleinen Protagonist*innen in dem, was sie erleben, fühlen lässt.
    Bei uns zuhause hieß die Mama übrigens Mutti. Ich glaube, das war in Ostdeutschland die gängige Bezeichnung. Mutti ist auch schön, finde ich. Nicht so streng wie Mutter, nicht so verniedlichend wie Mami. Meine Kinder sagen Mamma (mir Doppel-M in Italien!) oder Mammiiii (wenn sie was von mir wollen 😉).
    Ganz herzliche Grüße nach Berlin! Anke

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    1. Liebe Anke, das mit den Fotos finde ich eine sehr gute Idee. Mir hat auch mal jemand den Tipp gegeben, ein Moodboard zu erstellen. Das habe ich für mein Kinderbuch „Ferien bei den Royals“ gemacht. Bei mir ist es einfach ein Dokument, in dem ich Bilder gesammelt habe: vom Buckingham Palast, von Cocker Spaniels, englischen Gärten etc. Das schaue ich mir richtig gern an. 🙂
      Ja, Mutti! Daran, wie man seine Mutter anspricht, merkt man teilweise noch heutzutage, wo jemand aufgewachsen ist (oder auch in welcher Zeit). Ich kenne zum Beispiel einige Leute, die ihre Eltern auch beim Vornamen nennen sollten. 😉
      Mamma finde ich sehr schön. Für mich schwingt da noch dieses italienische Lebensgefühl mit. Eine Mamma ist in meiner Vorstellung eine liebevolle Person, die ihre Kinder oft in die Arme nimmt und immer ein offenes Ohr für sie hat. Außerdem stellt sie ihre Pasta selbst her und kann ein traumhaftes Tiramisu zubereiten. 😉
      Sehr herzliche Grüße zurück und ein wunderschönes Wochenende! Sophie

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  2. Liebe Sophie, ein Seminar als Feuerwerk, wann gibt es das schon? Glückwunsch! Und man sieht aus Ankes Kommentar, dass Süden und Norden sich manchmal doch ähnlicher sind, als man denkt. Bei uns ist es auch die Mamma mit den 2 ‚m‘, hört man zwar nicht, macht aber ein schönes Gefühl. 🙂

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    1. So, wie du es beschreibst, spüre ich es auch: das schöne Gefühl. 🙂
      Und was das Seminar betrifft: Ich hatte hohe Erwartungen, aber DAMIT habe ich nicht gerechnet!!! Ich war richtiggehend „geflasht“ – und bin es eigentlich noch immer. 🙂

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  3. Etymologisches

    Wie von meiner lieben Schwester beschrieben, waren wir als Kinder angehalten unsere Eltern mit dem Vornamen anzureden, aber nicht als Mama oder Papa. Dies als Ausdruck von Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit. Meine Oma hingegen war „Oma“ und meine Großmutter ließ sich, aus dem Geiste eines wie auch immer gearteten Matriarchats, „Großmutter“ bzw. „Mutter“ nennen.

    Dass es zu den Wörtern Vater und Mutter die entsprechenden Kosewörter Papa und Mama und deren Varianten gibt, scheint mir mit den Bedürfnissen von Säuglingen und Kleinkindern zusammenzuhängen. (Ich hoffe, ich lehne mich hier nicht zu weit aus dem Fenster). Säugetiere bezeichnet man auf Latein als Mammalia. Möglicherweise bezeichnet der Säugling die nährende und bergende Mutterbrust für sich als „Ma“. Entsprechend entsteht die Doppelung „MaMa“. Analog dazu ist der nur Geborgenheit vermittelnde, aber nicht nährende Elternteil eben nicht „MaMa“ sondern „PaPa“. Das erklärt möglicherweise die Ähnlichkeit der Worte in den meisten Sprachen. Selbst das sehr entfernte Thai benutzt „Poh“ und „Mä“.

    Wie dem auch sei…!

    Jedenfalls entwickelten wir, dem Ruf der Natur folgend, entsprechende Kosenamen. Und zwar, wenn ich mich richtig erinnere, „Muutz“ und „Puutz“. Beide mit langem U. Diese wandelten sich mit der Zeit zu „Mimmi“ oder sogar „Mimmifee“ bzw zu „Putti“. Aus „Mimmi wurde dann irgendwann das heute noch gebrauchte „Mimm“ oder „Mimmsi“. Aus „Putti“ wurde über die Zwischenformen „Puttenstone“ und „Stoni“ das heutige „Boni“.

    Soviel dazu!

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