oder: Halbnackt im Kaufhaus
In meinem Leben ist es immer mal wieder vorgekommen, dass mich jemand als „mutig“ bezeichnet hat. Selten bis nie traf die- oder derjenige damit ins Schwarze. Ich selbst würde mich als Angsthasen bezeichnen, als zwanghaften, hypochondrischen Angsthasen, zaudernd, zögernd, zaghaft. Entweder ist meine Selbsteinschätzung total falsch und ich habe jeglichen Bezug zur Realität verloren (übrigens eine meiner größten Ängste!) – oder aber die anderen irren sich. Ich hoffe auf Letzteres.
Besonders oft hörte ich den Ausspruch „Du bist aber mutig!“ oder auch die Variation „Ihr seid aber mutig!“ während meiner dritten Schwangerschaft. Ich wurde den Eindruck nie ganz los, dass mit „mutig“ eigentlich „verrückt“ gemeint war, die anderen aber zu höflich waren, das so direkt zu sagen. Ich wurde von ungefähr jeder zweiten Person, die von meiner Schwangerschaft erfuhr, fälschlicherweise den Mutigen (oder vielleicht den Verrückten) zugeordnet – und das übrigens während ich monatelang unter Übelkeit, meiner Zwangsstörung und wiederkehrenden Kreislaufproblemen litt. Ich fühlte mich gar nicht mutig, sondern lange Zeit eher kläglich, und fragte mich, ob ich bei unserer Entscheidung, ein drittes Kind haben zu wollen, etwas Entscheidendes übersehen hatte: den Umstand nämlich, dass man enorm viel Mut bräuchte, um all das zu bewältigen. Und ich fragte mich, ob das ganze Projekt nicht von Vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, wenn man so ein Angsthase ist wie ich. Hatte ich mich übernommen? Wie sollte ich denn all das lösen, so mutlos wie ich war?
Gerade Frauen, die weniger als drei Kinder hatten, wussten am besten darüber Bescheid, wie viel Mut es bräuchte, ein drittes in die Welt zu setzen. Ich wurde auch häufig gefragt, ob die Schwangerschaft geplant gewesen sei, eine Steigerung gegenüber der Mut-Zuweisung. Mein Gegenüber gab mir damit nämlich unmissverständlich zu verstehen, dass eine dritte Schwangerschaft ja eher „ein Unfall“ (ich HASSE diese Bezeichnung!) gewesen sein müsste, absichtlich würde das ja niemand herbeiführen. Übelkeit, Zwangsstörung, Kreislaufprobleme und grenzüberschreitende Fragen – all das war schwerer zu ertragen als der Hormoncocktail, den eine Schwangerschaft für werdende Mütter ohnehin schon bereithält.
Meine kleinste Tochter ist jetzt achteinhalb Jahre alt, die Schwangerschaft als vermeintliche Mutprobe liegt lange zurück. Ich bin jeden einzelnen Tag dankbar dafür, dieses kleine Mädchen an meiner Seite zu haben, das mir bewiesen hat, dass es keinen Mut braucht, ein drittes Kind zur Welt zu bringen und großzuziehen, sondern vor allem Liebe. Und davon habe ich sehr viel in meinem ängstlichen Herzen. Ich hätte meine Kleinste gern schon während der Schwangerschaft gekannt, in ihr kleines Gesichtchen geblickt, ihre kleinen Händchen gehalten – dann hätte ich mir bestimmt weniger Sorgen gemacht. Auf meine Frage, was ihr größtes Glück sei, hat sie mal geantwortet: „Dass ich dich habe. Dass mich eine so schöne Mutter auf die Welt gebracht hat.“ Da war sie vier Jahre alt.
In den vergangenen Wochen wurde mir erneut oft Mut angedichtet. So oft, dass ich darüber ins Grübeln gekommen bin und mich wieder mit einem möglichen Realitätsverlust auseinandersetze. Diesmal geht es um meine Blogeinträge zu meiner Zwangsstörung. Ist es mutig, darüber zu schreiben?
Mut ist die Fähigkeit, in einer gefährlichen, riskanten Situation seine Angst zu überwinden, oder anders: die Furchtlosigkeit angesichts einer Situation, in der man Angst haben könnte. Steht zumindest im Internet, und das weiß ja bekanntlich alles. (Doktor Google frage ich zum Beispiel auch immer gern um Rat.)
Ich muss jetzt also nur herausfinden, ob ich vor irgendetwas Angst habe, wenn ich von meiner Zwangsstörung schreibe. Frage ich mich: Was werden die anderen von mir denken? Mache ich mich erpressbar, hat jetzt irgendjemand irgendetwas gegen mich in der Hand? Ist die Zwangsstörung eine Leiche im Keller – oder sogar noch schlimmer? Wäre eine mögliche Politiker-Laufbahn dahin (an der ich allerdings ohnehin kein Interesse habe)? Wird mich bei meinem Vorleben jemals jemand als Kolumnistin einstellen?
Aber ich frage mich nichts dergleichen. Es ist mir zwar nicht egal, was andere über mich denken, aber ich erzähle letztlich von einer Erkrankung, für die ich absolut nichts kann. Ja, ich gebe es zu: Lange Zeit habe ich nicht viel über meine Zwangsstörung geredet und mich für manche Zwangsgedanken sogar geschämt. Das ist nichts, was man im Vorbeigehen fallen lässt oder sich für Small Talk eignet. Neulich hat mir ein befreundeter Kollege nach der Lektüre meines Blogbeitrags „Am Fahrradschloss rütteln“ geschrieben, dass er nicht gewusst habe, dass die Störung doch so schlimm war/ist. Ich habe ihm geantwortet, dass es mir fast leichter fällt, darüber zu schreiben als darüber zu reden. Wenn ich schreibe, muss ich dabei niemandem ins vielleicht betretene Gesicht schauen. Darauf gab es von ihm ein „Daumen hoch“. Mehr war dazu nicht zu sagen. Das fand ich irgendwie gut.
Kürzlich streifte ich durch ein Shopping-Center (ich weiß eigentlich auch nicht wieso: das Shopping-Center-Durchstreifen ist ja seit Corona total aus der Mode gekommen) und sah in einem Unterwäsche-Geschäft halbnackte Models auf großen Plakaten. Und da dachte ich: DAS wäre in meinem Fall mutig: mich in Unterwäsche und Übergröße (ich meine jetzt das Plakat-Format und nicht meine Figur) ablichten zu lassen und öffentlich zur Schau stellen. Und bin zu dem Schluss gekommen: Im Vergleich zu den Models gebe ich eigentlich gar nichts von mir preis.
Ist es also mutig über Zwänge zu schreiben? Ich meine „nein“. Warum schreibe ich darüber? Weil es überfällig ist. Prominente berichten von ihren Depressionen und Angststörungen (was ich übrigens total gut finde!!!) – nur Zwangsstörungen haben keine rechte Lobby. Also: kommt raus und traut euch ans Licht. Damit sich andere nicht mehr so allein fühlen.