oder: Von der Schwierigkeit, Grenzen zu setzen
In einem meiner Lieblingsfilme – Dirty Dancing – gibt es eine Szene, in der Johnny seine Tanzpartnerin Baby auf seinen Tanzabstand aufmerksam macht, nachdem ihm Baby beim Tanzenlernen mehrmals auf die Füße getreten ist. Johnny trägt ein enganliegendes hellblaues T-Shirt, beim Tanzen lässt er seine Oberarmmuskeln spielen, und obwohl Patrick Swayze eigentlich nicht mein Typ ist – wirklich nicht! –, finde ich ihn als Johnny einfach umwerfend! Männer, die gut tanzen können, finde ich übrigens grundsätzlich einfach umwerfend. Und wo ich gerade von Patrick Swayze rede: ich mag ihn auch in „Gefährliche Brandung“. Und kann sich noch jemand außer mir an „Fackeln im Sturm“ erinnern, wo er Orry Main spielt? Mann, Mann, Mann, vielleicht finde ich Patrick Swayze doch irgendwie besser als ich dachte… Worauf wollte ich jetzt eigentlich hinaus? Ach ja, ich wollte über Tanzabstände schreiben und nicht darüber, was mir an Männern gefällt.
Johnny macht Baby also auf seinen Tanzabstand aufmerksam und erklärt ihr, dass sie nichts darin zu suchen habe. Ich wünschte, ich könnte das auch. Also: andere auf meinen Tanzabstand hinweisen. Ich finde, den gibt es nämlich auch im übertragenen Sinn auf dem teils rutschigen Parkett der zwischenmenschlichen Beziehungen. Mir jedenfalls tritt öfter mal jemand auf die Füße. Wahrscheinlich ließe sich das vermeiden – ICH könnte es vermeiden! –, indem ich rechtzeitig auf meinen Tanzabstand hinweisen würde. Aber ich kann das leider nicht oder zumindest nicht gut: sagen, worauf ich im alltäglichen Miteinander und in einer Freundschaft Wert lege oder – noch schwieriger! – was mir nicht gefällt.
Solange es gut läuft, kommt es darauf ohnehin nicht an. Man tanzt geschmeidig vor sich hin und miteinander. Probleme entstehen erst, wenn der eine in den Tanzabstand des anderen platzt, der Grenzübertritt passiert ist. In den meisten Fällen nehme ich das klaglos hin. Wobei, das stimmt nicht: Ich klage schon, erzähle zum Beispiel meinem Mann davon oder einer Freundin, Goldlöckchen etwa oder Schneewittchen. Wobei es die doch gar nicht betrifft, sondern nur mich und den Grenzgänger.
Über all die Jahre habe ich einige probate Mittel gefunden, damit umzugehen. Trick eins: Ich umgebe mich gern mit Menschen, die mir möglichst ähnlich sind und bei denen ich davon ausgehen kann, dass sie auch ähnliche Erwartungen und Tanzabstände haben. Trick zwei: Ich bin sehr biegsam und anpassungsfähig. Sagt mir jemand „Tanz‘ den Limbo“, dann schaffe ich selbst das – ganz gelenkig unter einem Bambusrohr hindurch, das mir mein Tanzpartner hinhält. Oft finde ich das unbequem, aber ich tue es doch, weil ich keine große Sache daraus machen will.
Und darin liegt vielleicht schon ein Teil meines Problems: Wenn jemand in meinen Bereich platzt, macht mir das zwar zu schaffen, aber andererseits denke ich, dass es ja vielleicht an mir liegt, mein Tanzabstand einfach zu groß ist und den anderen eigentlich keine Schuld trifft, sondern mich, weil ich die Grenzen zu weit ziehe und mich einfach nicht so haben sollte. In gewisser Weise fällt es mir also schwer, meine eigenen Bedürfnisse so wichtig zu nehmen, dass ich sie direkt und vorbehaltslos äußern kann. Das ist natürlich irgendwie traurig und ich möchte es auf jeden Fall lernen: mich wichtig nehmen und klarmachen: Stopp, bis hierhin und nicht weiter. Den Limbo möchte ich jetzt NICHT tanzen, nimm den blöden Stock da weg. Bislang sage ich in solchen Situationen übrigens eher etwas wie „Ich habe eine Wassermelone getragen“ und hoffe, dass der andere versteht, dass ich damit eigentlich „Das ist mein Tanzabstand“ meine. Aber natürlich verstehen das nicht alle – und ich kann es ihnen noch nicht einmal verdenken.
Ich möchte den anderen also keinen Vorwurf machen. Wenn ich meine Grenzen nicht aufzeige, woher sollen sie denn dann wissen, dass es überhaupt welche gibt?
Oftmals beginnt in solchen Situationen eine Art Eiertanz für mich. Ich biege mich hierhin und dorthin und manchmal ziehe ich mir auch noch Samthandschuhe an, versuche durch die Blume meinen Unmut zu äußern, schüchtern und zaghaft und sicherlich absolut unverständlich (siehe oben Stichwort „Wassermelone“). Ich gebe zu: Ich habe Angst vor der Reaktion des anderen. Ich habe es leider schon mehr als einmal erlebt, dass selbst die harmloseste Kritik – milde vorgetragen – jahrelange Freundschaften gesprengt hat. Ich habe also große Verlustängste. Allein schon deshalb halte ich mich mit dem Äußern meiner Bedürfnisse und der oftmals damit verbundenen Kritik sehr zurück. Denn auf seinen Tanzabstand hinzuweisen, ist eine Form von Kritik. Die besagt nämlich: du hast etwas getan, was ich nicht mag.
Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen: Wenn eine Freundschaft das nicht aushält, dann ist es auch nicht das Richtige. Da ist wahrscheinlich wirklich etwas dran! Aber ich gebe noch etwas zu: Ich mag auch Konflikte nicht. Und das, obwohl ich sie für wichtig halte. Es muss also gar nicht erst zum Bruch kommen, damit ich mich schlecht fühle. Ist die Harmonie dahin, wird es für mich schon schwierig genug. (Ich bin übrigens Waage, falls das jetzt von Bedeutung sein könnte.)
Die einzigen Personen, mit denen ich gut streiten kann, gehören zu meiner Kernfamilie: mein Mann und meine Töchter. Mit meinem Mann streite ich mich – wenn überhaupt – meistens um total absurde Dinge. Einer der letzten heftigen Streits zum Beispiel drehte sich um einen schön bedruckten Ordner, in dem unsere kleinste Tochter die Schulsachen aus der ersten Klasse aufbewahrt. Eben diesen Ordner hat Hermine, eines unserer Zwergkaninchen, angeknabbert, während mein Mann die Aufsicht geführt hat. An der angeknabberten Stelle sah der Ordner so hässlich aus, dass ich ihn ersetzen wollte (den Ordner, nicht meinen Mann). Mein Mann war dagegen, ich kaufte trotzdem einen neuen, wir stritten uns einen ganzen Tag lang um 4,95 Euro und ums PRINZIP.
Mit meiner mittleren Tochter streite ich auch hin und wieder. Sie kann schon mal eine ziemliche Kratzbürste sein (ebenso wie ich), da fliegen dann manchmal die Fetzen. Aber genauso leidenschaftlich wie wir uns streiten lieben wir uns auch. Wir vertragen uns schnell und tragen uns nichts nach. Ein Traum!
Bei Streit mit anderen habe ich übrigens auch oft folgendes Phänomen beobachtet: Der Ball wird umgehend zurückgespielt. „Aber du hast doch 1996 bei der Party von Jakob auch…“ Das ist natürlich nicht wirklich hilfreich. Ich will damit gar nicht sagen, dass es leicht ist, Kritik anzunehmen oder darauf hingewiesen zu werden, dass man bei einer anderen Person eine Grenze überschritten hat. Aber sollte man nicht wenigstens daran arbeiten, kritikfähiger zu werden? Ich meine: alle Seiten?
Am Ende wünsche ich mir wahrscheinlich nur eines: Dass derjenige, an dem ich Kritik geäußert habe, zur mir steht und sagt: „Mein Baby gehört (immer noch) zu mir.“