Zum ersten Mal: Der Eiskrem-Wettbewerb

oder: Cookies, Schoko, Schlumpf

Alles begann mit einem Knuff. Es war kein zärtlicher Knuff mit der leicht geballten Faust gegen den Oberarm, wie ihn Verliebte austauschen, wenn sie sich necken. Nein, es war ein ausgewachsener, oder sagen wir zumindest halbwüchsiger Knuff, einer der Sorte, die sich Geschwister während eines handfesten Streits verpassen. Ein Knuff, der zwar nur ein bisschen wehtun, dafür aber umso doller ärgern soll.

So war es auch hier: Nora knuffte ihre Schwester Johanna. Warum, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Vielleicht hatte Johanna der Jüngeren die Zunge herausgestreckt, sich über den Schokoladeneis-Fleck auf dem neuen Strandkleid lustig gemacht oder Noras Art zu lispeln nachgeäfft. Die Schwestern hatten eine Menge Ideen, um sich gegenseitig auf die Palme zu bringen. 

Fest steht: Ohne den Knuff hätte es alles, was in den nächsten zwei Wochen passierte, nicht gegeben. Keine Teilnahme am Eiskrem-Wettbewerb, keine neuen Bekanntschaften, keine Schmetterlinge im Bauch, kein Hauen und Stechen mit Herrn Zuckerback und erst recht keine Rettung in letzter Sekunde. Es wäre ein ganz normaler Sommerurlaub an der Ostsee geworden – mit Sonne, Strand und ganz viel freier Zeit.

Aber es gab den Knuff, und er führte dazu, dass Johanna mit ihren Beinen gegen die große Strandtasche stieß, die halb unter dem Tisch und halb auf einem der Kieswege der Eisdiele „Jette & Joost“ stand. Die Tasche fiel um und eine feuchte Handtuchrolle, in der die Badeanzüge der Mädchen auf die Wäscheleine warteten, kullerte heraus. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht ein Herr mittleren Alters darüber gestolpert wäre, der gerade seinen Eiskaffee zu einem Tisch ganz in der Nähe bringen wollte. Der Mann fiel zwar nicht hin, taumelte aber bedenklich. Das Sahnehäubchen, das auf seinem Getränk gethront hatte, schwappte aus dem Glas und landete ausgerechnet auf dem Kopf seines Hundes. Dort blieb es wie ein kleines weißes Mützchen sitzen. Der Hund versuchte seine Kopfbedeckung abzuschütteln und kläffte laut. Das wiederum führte dazu, dass Leni, die kleinste der drei Schwestern, vor Schreck ihr Eis fallen ließ. Es war Schlumpf-Eis, sofern das an dieser Stelle überhaupt eine Rolle spielt.

Um genau zu sein: Die Fünfjährige ließ das Eis nicht nur fallen, sondern schleuderte es in einem hohen Bogen von sich. Der Hund hatte ihr schließlich direkt ins Ohr gebellt. Der Schreck war also entsprechend groß. Das Eis segelte etwa einen Meter weit durch die Luft, hätte fast die Inhaberin Jette getroffen, die gerade dabei war, ein paar Gläser abzuräumen, landete dann aber recht unspektakulär mit einem leisen „Flatsch!“ auf einem der Kieswege der Eisdiele. Die blaue Kugel begann sofort, sich dort als Pfütze aus Eis auszubreiten, als hätte sie nur darauf gewartet. „Bu-hu! Mein Eis!“, heulte Leni los. Und der Hund des Mannes – ein Schlittenhund mit Schlumpf-Eis-blauen Augen – fiel mit ein. Die Mutter der drei Mädchen zog die Augenbrauen hoch, stellte ihren Eisbecher ab und hockte sich neben den Tisch, um Leni in den Arm zu nehmen. Mit der anderen Hand begann sie mit einer Papierserviette die Überreste des Schlumpf-Eises vom Kiesweg zu wischen. „Warte, ich mach‘ das schon“, sagte der Vater der Mädchen, als seine Frau fast fertig war. Leni jaulte immer noch mit dem Schlittenhund um die Wette. „Psst, Eskimo, willst du wohl still sein?“, zischte sein Herrchen und musterte die fünfköpfige Familie ärgerlich. Das Sahnehäubchen war dem Hund zwischenzeitlich vom Kopf gerutscht, hatte aber ein paar fettige Spuren in Eskimos Fell hinterlassen.

In diesem Moment – es war genau der richtige – trat Jette auf den Plan und wandte sich an Leni: „Na, Kleine, ich hab‘ gesehen, was passiert ist. So ein Unglück! Möchtest du dir ein neues Eis aussuchen?“ Und an die Eltern gewandt: „Das geht natürlich aufs Haus. Versteht sich von selbst.“ „Das ist aber nett“, erwiderte die Mutter der Mädchen und der Vater bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln. Jette lächelte zurück und nahm Leni an die Hand. Das Mädchen sah zu der rotgelockten Frau hinauf und schaute dann fragend zu ihrer Mutter. „Geh nur“, sagte diese. „Wir warten hier.“

Das Eiscafé war nicht groß: ein kleiner Garten mit Kieswegen, ein paar Tischen und Klappstühlen, einem Hochbeet in der Mitte, auf dessen Umrandung die Gäste der Eisdiele sitzen konnten, wenn alle anderen Plätze schon besetzt waren. Die Tischplatten waren rund und aus Holz, die Tischbeine schmiedeeisern. Auf jedem Tisch stand eine kleine Erdbeerpflanze in einem Keramikübertopf und erinnerte verschmitzt daran, dass Hochsommer war.

Die Theke, an der die Kunden aus 24 Eissorten auswählen konnten, stand leicht erhöht auf einem hölzernen Podest, zu dem ein paar Stufen hinaufführten, und begrenzte die eine Querseite des Eiscafés von Jette und Joost. Über der Theke hing ein Schild mit der Aufschrift „Lachen ist gesund“. Hinter der Theke wirbelten Joost und eine Aushilfe mit Eiskellen und dem dampfenden Waffeleisen, drapierten Kugeln von schwarzer Vanille oder Kokosnuss, Sanddorn-Quark oder Joghurt-Holunder kunstvoll in Becher und knusprige Eiswaffeln, verzierten mit geschlagener Sahne, Krokant und Walnusshälften, ließen Schokoladensoße, warme Kirschen, Rhabarber-Kompott und Eierlikör fließen. Das ganze Treiben umgab der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, heißer Schokolade und belgischen Waffeln.

An der Theke angekommen, drehte sich Leni um und winkte. Ihre Eltern und ihre zwei älteren Schwestern winkten zurück. „Das ist aber ungerecht“, maulte Nora. „Dann hat Leni ja mehr als eine Kugel Eis.“ Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch. Für einen Moment war er versucht zu antworten, dann aber wandte er sich seiner Frau zu und begann, die Einkäufe zu besprechen, die sie noch erledigen wollten.

Kurz darauf kam Leni zurück. Sie lief mit kleinen, schnellen Schritten, die ihr blondes Haar wehen ließen. Stolz hielt sie eine Waffel mit einer weiteren Kugel Schlumpf-Eis in den Händen. Das Blau leuchtete so strahlend wie der Himmel über Prerow. Um den Mann mit Hund machte Leni einen großen Bogen, schaute kurz zu den beiden herüber und streckte ihre kleine Zunge heraus – zum Glück von beiden unbemerkt. Im Schlepptau hatte sie Jette, deren rote Locken bei jedem Schritt wippten. In der Hand hielt die Inhaberin der Eisdiele einen Zettel, so groß wie ein Briefumschlag und bunt bedruckt. „Ihr seid hier im Urlaub, nicht wahr?“, fragte sie, als sie am Tisch angelangt war. „Ja. Wir sind gestern angekommen“, sagte die Mutter und fügte hinzu: „Und gleich heute mussten wir hierher kommen. Eis bei „Jette & Joost“ gehört für uns einfach zum Urlaub dazu.“ Das war nicht nur so dahingesagt, es stimmte. Seitdem die Eisdiele vor einigen Jahren eröffnet hatte, gehörte die fünfköpfige Familie zu ihren Stammgästen – allerdings immer nur einmal im Jahr für wenige Tage, wenn sie an der Ostsee Urlaub machte.

Jette lächelte. „Das freut mich!“, sagte sie. „Wenn ihr eine Weile bleibt, dann habe ich vielleicht etwas für euch. Ich meine, falls ihr nicht schon völlig ausgebucht seid und für jeden Tag Pläne gemacht habt.“ Sie wedelte mit ihrem Zettel. Oben war das Logo der Eisdiele abgebildet, das konnten die Zanellis – so hieß die Familie nämlich – gut erkennen: eine vanillegelbe Kugel Eis in einer Waffel, von der rundherum hellgelbe und orangefarbene Striche wie Sonnenstrahlen abgingen. Was auf dem Zettel sonst noch stand, war nicht zu erkennen, weil Jette ihn die ganze Zeit hin- und herschwenkte. „Also, vielleicht ist es ja etwas für euch“, wiederholte sie. „Was denn?“, fragte Leni mit leuchtenden Augen. Sie hoffte vielleicht, dass es noch mehr Gratis-Eis geben würde. Jette gab den Zettel Johanna in die Hand, die sofort zu lesen begann: „Eiskrem-Wettbewerb“ las sie laut die Überschrift. „‚Jette & Joost‘ feiern ihr Jubiläum. Am Freitag, dem 20. Juli, gibt uns seit drei Jahren, drei Monaten und fünfzehn Tagen.“ Johanna unterbrach sich, runzelte die Stirn und sagte: „Das ist aber eine krumme Zahl.“

Jette zuckte mit den Schultern. Das Jubiläum war ja nur ein Vorwand gewesen, um den Wettbewerb zu veranstalten, dachte sie. Sie hatte noch Herrn Alt von Spritzigs Stimme im Ohr, als er gesagt hatte, dass sich „die Aktion besser verkaufen würde, wenn man einen Anlass dafür hat“. Ein Jubiläum sei da genau das Richtige. Sonst bestünde auch die Gefahr, dass der Horror-Pinguin Lunte roch. Naja, „Horror-Pinguin“ hatte Herr Alt von Spritzig nicht gesagt. Aber bestimmt gedacht. Schließlich war der Chef der angesehenen Hamburger Werbeagentur auf ihrer Seite.

12 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Der Eiskrem-Wettbewerb“

  1. Prima, das ist ja eine tolle Idee zum richtigen Zeitpunkt. Ich freue mich riesig, dass es die „ Eisfreunde“ in den Blog geschafft haben. Weiter so Sophie!!! Ich freue mich schon auf die nächsten Kapitel. Es grüßt recht herzlich der „Follower“

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    1. Ich denke manchmal: Das Leben ist doch auch ein bisschen wie ein Fortsetzungsroman. Also wieso eigentlich nicht hier die Geschichte der Familie Zanelli veröffentlichen? Ich muss das mal durchdenken. Vielleicht reichen aber auch die ersten paar Seiten als Kostprobe. 😉

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    1. Danke dir, liebe Anja. Es freut mich sehr, dass du das schreibst. Vielleicht kann ich ja so die Sommerferien überbrücken: immer mal etwas aus dem Eiskrem-Wettbewerb veröffentlichen. Vielleicht schreibe ich aber auch bald einen neuen Beitrag. Mal sehen… Liebe Grüße!

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  2. Es war eine sehr gute Idee von dir uns mit deinem „Eiskrem-Wettbewerb“ den Ferienbeginn zu versüßen. Ich habe mich sehr gefreut und denke immer wieder gern daran, wie du uns in Prerow die ersten Kapitel in den herbstlichen Abendstunden vorgelesen hast und wie begeistert wir waren.

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  3. Ich habe die Geschichte gelesen und bin sooo ins träumen gekommen. Ich hätte noch ewig weiter über Sommertage, Eis essen, den nicht aufhörenden Tag bis gefühlt fast Mitternacht, lesen können. Aber dann war sie leider plötzlich zu Ende….Mein Traum wäre, ich könnte nächstes Jahr an diesem Eisstand mitarbeiten und lauter nette Leute kennenlernen und beobachten. Wäre bestimmt sehr interessant und lustig. Sophie bitte weiter…..

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    1. Liebe Patty, ich glaube, die Geschichte ist genau die Richtige für dich. Es gibt nämlich noch ganz viele nette Menschen, die man in dem Buch kennenlernen kann: „Die Schönsten vom Strand“ zum Beispiel oder einen Jungen, der sich Niko Naschkatze nennt, und den Münchner Restaurantkritiker Anders Ebel, der sich nicht entscheiden kann. Dumm nur, dass er mit in der Jury vom Eiskrem-Wettbewerb sitzt… Liebe Grüße!

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