Immer wieder: Ein Tag, tausend Momente

oder: Kleines Glück

Als meine älteste Tochter sechs Jahre alt war, brach sie sich den Arm. Den Nachmittag hatte sie bei einer Freundin verbracht, abends hatte mein Mann sie abgeholt, es war Januar, die Witterung schlecht, alles dunkel und kalt, der Boden nass und rutschig. Mein Mann schob Belle den weiten Weg von Downtown Schöneberg bis nach Friedenau auf seinem Fahrrad. Sie saß auf dem Gepäckträger, den Schulranzen auf ihrem Rücken. In einer Kurve rutschte meinem Mann das Rad zur Seite, ein kurzer Moment nur, der ausreichte, um meine Tochter aus dem Gleichgewicht und zu Fall zu bringen. Die Unwucht des Schulranzens beschleunigte den Sturz, Belle kam ungünstig auf dem Bordstein auf. Als beide endlich zuhause waren, wollte Belle ihren Mantel nicht ausziehen, solche Schmerzen hatte sie. Ich erinnere mich an den Moment, als sie es doch tat. Sie trug einen dünnen fliederfarbenen Pullover, stand im Wohnzimmer am Fenster, der linke Arm hing schlaff an ihrer Seite. Und er war länger als der andere. Den Anblick werde ich nie vergessen.

Ein Tag hat 24 Stunden – und tausend Momente. Am Morgen weiß niemand, wie der Tag ausgeht. Das kann ein Versprechen sein oder eine Drohung. Es gibt Tage, die zäh sind wie Kaugummi und gar nicht vergehen wollen (in meinem Leben sind diese Tage extrem selten), und solche, die an einem vorbeirasen. Es gibt Tage, für die man Pläne geschmiedet hat, und Tage, die wie ein unbeschriebenes Kalenderblatt voller Erwartungen vor einem liegen. Es gibt Tage, auf die ich mich freue, und Tage, vor denen ich mich fürchte, Tage, die nie enden sollen, und solche, die am besten gar nicht erst anfangen.

Neulich musste meine mittlere Tochter operiert werden. Am Kiefer. Unter Vollnarkose. „Und was ist, wenn ich nicht wieder aufwache?“, fragte sie. „Du wachst natürlich wieder auf“, sagte ich mit Nachdruck und pochendem Herzen.

„Wir müssen ins Krankenhaus“, sagten wir damals zu Belle und fuhren los. Mein Mann, Belle, Supergirl, Baby Boss, die erst neun Monate alt war, und ich. Mein Mann hätte auch allein mit Belle fahren können, das wäre viel klüger gewesen. Was sollte ich mit einer knapp Vierjährigen und einem Baby im Krankenhaus? Aber ich konnte das nicht: Sie allein fahren lassen. Ich musste dabei sein. Wir kamen sehr schnell an die Reihe, unsere Tochter wurde geröntgt und eh wir uns versahen in den OP geschoben. Sie hatte damals einen Hautpilz, ihre letzten Worte, bevor sie verschwand, waren: „Wir haben meinen Fuß heute noch gar nicht behandelt.“ Als wir auf der Station warteten, kamen meine Eltern, um Baby Boss, Supergirl und mich nach Hause zu bringen, da war ich in Tränen aufgelöst.

Auch an Tagen, vor denen man sich fürchtet, gibt es schöne Momente, selbst solche Tage scheinen manchmal fast nur daraus bestehen. Sie reihen sich wie bei einer Perlenkette aneinander, strahlend weiß. Vielleicht leuchten sie umso heller, wenn sie sich von Sorgen abgrenzen müssen.

Supergirl und ich sitzen beim Kieferchirurgen im Wartezimmer. „Was machst du, während ich operiert werde?“, fragt sie. „Ich bleibe hier und warte“, sage ich. „Du kannst ja die ‚Gala‘ oder die ‚Bunte‘ lesen. Die haben sie hier“, schlägt Supergirl vor.

Der Anästhesist und die Narkoseschwester holen uns ab. Sie sagt: „Und du bist Supergirl, ja? Das ist ein schöner Name. Ich heiße Britt.“ Als die Narkose zu wirken beginnt und ich den Raum verlassen muss, spürt Britt den Kloß in meinem Hals. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt sie. „Wir passen gut auf Ihre Tochter auf.“

Die OP ist bis Viertel nach zwei angesetzt, um 14.07 Uhr husche ich schnell auf die Toilette. Als ich wieder herauskomme, merke ich, dass schon nach mir gesucht wurde. Supergirl liegt im Aufwachraum, die OP ist gut verlaufen. Die behandelnde Ärztin sagt: „Wenn ich Sie nicht gefunden hätte, hätte ich Supergirl adoptiert.“ Selbst im Tiefschlaf versprüht meine Mittlere noch ihren Charme, dem alle erliegen.

Zweimal besuchen Supergirl und ich an diesem Tag die Praxis der Kieferorthopädin, einmal vor dem Eingriff, um den Bogen der Zahnspange entfernen zu lassen, einmal danach, damit er wieder eingesetzt wird. Supergirl schaut sich ein Disney-Bilderbuch an: Das Dschungelbuch. Es gibt ein Bild vom kleinen Mogli, eingewickelt in Tücher. Sie fragt: „Hättest du eigentlich gern einen Sohn gehabt?“ „Ja“, sage ich, „euch drei und dann gern noch Zwillinge: einen Jungen und ein Mädchen.“ „Ich hätte auch gern einen Sohn“, sagt Supergirl, „einen Sohn und zwei Töchter.“

Abends schickt mir Anna Freudchen eine Sprachnachricht und fragt, wie die OP verlaufen ist. Auch eine andere Freundin erkundigt sich danach. Ich habe die besten Freundinnen der Welt.

Belle wurde damals zweimal operiert, einmal, um den Bruch im Oberarm knapp über dem Ellenbogen zu richten. Ein zweites Mal, um den Nagel zu entfernen, der dazu verwendet worden war. Beim Intubieren hat sie einen Wackelzahn verloren, den wir nie wieder gefunden haben. Die Zahnfee kam trotzdem. Belle trägt eine gezackte Narbe über dem Ellenbogen, die sie noch besonderer macht.

„Was hast du eigentlich gemacht, während ich operiert wurde?“, fragt Supergirl abends. „Ich habe die ‚Bunte‘ gelesen“, sage ich und bin dankbar, dass der Tag so gut verlaufen ist.

5 Kommentare zu „Immer wieder: Ein Tag, tausend Momente“

  1. Liebe Sophie, vielen Dank für den Beitrag. Was ich immer am Ende Deiner Beiträge denke, ist: „Wie toll und wie schade, dass er schon zu Ende ist“. Ich feu mich schon auf den nächsten Beitrag😊

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  2. Danke Sophie für den Impuls zum Nachdenken. Ich musste sofort an Peter Høeg und „De måske egnede.“ (Der Plan von der Abschaffung des Dunkels) denken. Er beschreibt darin so wunderbar, dass in der Zeit eine Einheit besteht von Bewegung und Unveränderlichkeit.

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  3. Liebe Sophie, die Geschichte hat wieder alles, was eine gute Nachricht braucht. Sie ist authentisch und einfühlsam geschrieben, macht Spaß auf mehr, und ist, obwohl zu einem ernsten Thema, nicht ohne Witz. Das Bild zum Text ist durch die Auswahl der Objekte, zum Beispiel der Standuhr, eine Veranschaulichung des Themas: „Momente“. Ich gratuliere! Weiter so!
    Der „Follower“

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  4. Ein sehr schöner, vielschichtiger Text. Ich finde immer, die schönen Momente strahlen am hellsten, wenn sie ganz unerwartet passieren. Und ihr Licht hilft uns durch die dunklen Tage und die Momente, vor denen wir Angst haben. Zum Glück meist unbegründet.

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