Immer wieder: Unter Geschwistern

oder: Freunde und Rivalen?

Vor einigen Wochen war ich mit Baby Boss in der Stadt, was die nächstgelegene Einkaufsstraße meint. Sie wollte ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für ihre Schwester Supergirl besorgen. Supergirl ist jetzt 13 und ein Teenager, wie er im Buche steht. Das schreibe ich vollkommen wertfrei. Sie wünschte sich ein Armband oder ein Fußkettchen, und Baby Boss und ich stöberten durch die Geschäfte und fragten uns, was Supergirl wohl gefallen würde. Baby Boss nahm die Angelegenheit sehr ernst, sie hatte ein kleines Portemonnaie bei sich, in dem Zwei-Euro-Münzen steckten. Es handelte sich um ihr Taschengeld. Sie wollte davon nicht zu viel ausgeben, aber genug, um Supergirl eine Freude zu machen.

Endlich fanden wir etwas Passendes: ein silbernes Fußkettchen, in das der Schriftzug „Aloha“ eingearbeitet war. Ein Volltreffer. Supergirl ist jemand, der Fußkettchen mit Aloha-Schriftzug tragen kann ebenso wie Mustermix, Haarreifen mit Rüschenapplikation, Baggy Pants und bauchfreie Tops. Es war im Sale und sollte acht Euro kosten. Baby Boss wollte es kaufen, stellte sich zur Kasse und legte vier ihrer Münzen in einem Stapel auf den Tresen. Ich stand ein bisschen abseits und beobachtete die Szene. Es war ein Moment, für den sich der ganze Tag gelohnt hatte.

Ich habe selbst keine Schwester, dafür aber einen Bruder, der mir sehr nahesteht. Neulich hat er ein Video in unsere Familiengruppe geschickt, da sieht man ihn in einer Szene der Serie Babylon Berlin mit Meret Becker und Ronald Zehrfeld. Er ist Statist, aber der beste überhaupt. Er trägt Hut und Anzug und Mantel und drückt Ronald Zehrfeld kurz die Hand, nachdem er das „Moka Efti“ verlassen hat. Noch nie hat jemand authentischer ausgesehen beim Händedruck. Ich habe die Szene wahrscheinlich zehnmal hintereinander angeschaut und auch danach noch einige Male.

Als wir Teenager waren, haben mein Bruder und ich nach der Schule oft zusammen in meinem Zimmer gesessen – er auf meinem Sofa, ich auf meinem Schreibtischstuhl –, haben Tee getrunken und uns über Gott und die Welt und die zahlreichen Verehrerinnen meines Bruders unterhalten. Ich hatte nie Verehrer, zumindest keine, von denen ich gewusst hätte, was so viel bedeutet wie: Ich hatte nie Verehrer. Wenn mein Bruder eine Schwester gewesen wäre und sich im Gegensatz zu mir vor Verehrern nicht hätte retten können, wäre das ein Problem gewesen. So habe ich es ihm gegönnt.

Meine Töchter verstehen sich meistens sehr gut, mal teilen sie untereinander aber auch ganz schön aus. Vor allem Baby Boss bekommt oft etwas auf den Deckel, finde ich. Bei mir genießt sie Welpenschutz (wahrscheinlich ihr Leben lang), bei ihren Schwestern offensichtlich nicht. „Baby Boss ist immer so angeberisch“, sagt Belle und Supergirl nickt. Ich erwidere dann: „Sie ist eben selbstbewusst.“ Supergirl zieht die Augenbrauen hoch. „Sie ist ZU selbstbewusst“, sagt sie und Belle nickt. Ich finde Baby Boss gerade richtig, wie sie ist, und würde mir manchmal gern ein Scheibchen von ihr abschneiden.

Wo Geschwister sind, wohnt oft das Gefühl, nicht gerecht behandelt zu werden. Erfreulicherweise meistens nur vorübergehend, zur Untermiete sozusagen. Heute Morgen beim Frühstück ging es um unseren Freitagsfilm: Harry Potter und der Halbblutprinz. „Wann schauen wir Teil sieben?“, fragte Baby Boss. „Am nächsten Freitag“, sagte ich. „Als ich so alt war wie Baby Boss, durfte ich die Harry-Potter-Filme noch nicht sehen“, regte sich Belle auf. „Das liegt daran, dass wir Baby Boss lieber haben als dich“, sagte mein Mann und zwinkerte Belle zu. „Ja, das denke ich auch“, sagte Belle und brachte Argumente hervor, die das bestätigen sollten. „Wenn Baby Boss zum Beispiel eine ‚Eins‘ schreibt, dann sind alle total begeistert. Und wenn ich eine ‚Eins‘ schreibe, heißt es: ‚Warum war es keine ‚Eins Plus‘?‘.“ „Alle freuen sich, wenn ich eine ‚Eins‘ schreibe, weil es bei mir etwas Besonderes ist“, warf Baby Boss ein und zeigte sich erstaunlich selbstkritisch.

Belle ließ nicht locker: „Ich musste immer meine Zahnspange tragen, auch tagsüber. Und bei Baby Boss reicht es euch, wenn sie die Spange nachts trägt.“ „Ich habe einfach keine Kraft mehr, darüber zu diskutieren“, sagte ich. „Dann kann ich das ja machen. Ich habe genug Kraft und drücke Baby Boss ihre Zahnspange einfach in den Mund.“ Mehrere Kinder zu haben, ist auch deshalb so schön, weil die Geschwister einem beim Erziehungsauftrag zur Hand gehen.

Wenig später saßen Belle und Baby Boss in trauter Zweisamkeit auf dem Sofa. Ich hörte, wie Baby Boss sagte: „Später werde ich einmal die größte Schauspielerin, die Deutschland je gesehen hat.“ Hoffentlich war das Belle nicht wieder zu angeberisch. Vielleicht hat sie Baby Boss zur Strafe ihre Zahnspange in den Mund gedrückt.

Mein Bruder und ich haben auch beide Zahnspangen getragen, aber ich wüsste nicht, dass wir darüber jemals in Streit geraten sind. Filme haben wir gern geschaut, wenn wir als Kinder bei unserer Oma übernachtet haben: „Der Fälscher von London“ (FSK 16), „Spartacus“ (FSK 12) und „Im weißen Rößl“ (FSK 6). Dazu haben wir in unseren Sesseln in Streifen geschnittene belegte Brote gegessen. Die Filme gehörten zur VHS-Videokassetten-Sammlung meiner Oma.

Meinen Bruder und mich würde ich als starkes Team bezeichnen, obwohl wir im Alltag nur wenig miteinander zu tun haben. Aber allein das Wissen, dass es ihn gibt, macht mich froh. Ich hoffe, dass es meinen Töchtern ebenso geht, spätestens, wenn sie 44 sind und Zahnspangen, Schulnoten und Altersfreigaben für Filme keine Rolle mehr spielen.

7 Kommentare zu „Immer wieder: Unter Geschwistern“

  1. Einige deiner zitierten Gesprächsfetzen könnten glatt bei uns mitgeschnitten worden sein. 😉 Ich frage mich manchmal, wie unsere Kleine als „Sandwich-Kind“ wäre, die ja laut Geschwister-Psychologie immer die sind, die sich am meisten benachteiligt fühlen. Sie ist schon als zweite von Zweien ständig mit der Großen im Clinch, in deren Augen wiederum sie verwöhnt und von uns bevorzugt ist. Bei euch habe ich den Eindruck, Super-Girl trägt diesen Namen auch, weil sie sich eben nicht im Sandwich eingeklemmt fühlt, sondern sehr selbstbewusst dasteht.
    Wie das mit einem Bruder gewesen wäre, geht mir ab. Da hast du wertvolle Erfahrungen sammeln können.
    Danke für diesen schönen Artikel, der mich zum Nicken und Schmunzeln gebracht hat. Liebe Grüße! Anke

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    1. Wie war das? Du hast selbst (zwei?) Schwestern, oder? Wenn ich meine Töchter zusammen sehe (und sie sich nicht gerade streiten), dann wünschte ich mir manchmal auch, zusätzlich zu meinem wunderbaren großen Bruder eine Schwester zu haben, die mir französische Zöpfe geflochten hätte etc. 😉
      Supergirl war interessanterweise schon sehr durchsetzungsstark, als sie und Belle noch zu zweit waren. Dennoch mache ich mir manchmal Gedanken über ihre Sandwich-Position. Sie soll sich natürlich nicht zwischen ihrer großen und ihrer kleinen Schwester eingequetscht fühlen.
      Interessant, dass es bei euch ähnlich ist und die Kleine bei ihrer großen Schwester als bevorzugt gilt. Vielleicht denkt mein Bruder das auch über mich? 😉 Wobei ich glaube, dass sich in einem gewissen Alter vieles auflöst. Meinem Bruder hat der Beitrag übrigens sehr gut gefallen.
      Herzliche Grüße – diesmal auch unbekannterweise an deine Töchter. So unbekannt scheinen sie mir nämlich gar nicht zu sein. 😉

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      1. Ja, ich habe zwei Schwestern, bin aber als Nachzügler praktisch wie ein Einzelkind aufgewachsen. Die Älteste freute sich und fuhr mich im Kinderwagen spazieren, die Mittlere war eifersüchtig und schämte sich, dass ihre „alten Eltern“ (sie waren 39 bei meiner Geburt) nochmal ein Baby hatten. Mir fehlt die persönliche Erfahrung und damit der gesunde Abstand zum Geschwisterstreit, ich nehme mir bei meinen Kindern alles zu sehr zu Herzen. 😒 Kennst du den Sketch der Knallerfrau, wo sie ihren Kindern die Cornflakes abzählt? Es gibt ja die Redewendung „Sie gönnen sich den Dreck unter den Fingernägeln nicht“. Ich hoffe auch, das „verwächst“ sich und später bleiben die guten Erinnerungen an schöne gemeinsame Stunden, nicht an den ganzen Streit und Zank.
        Habt einen harmonischen Sonntagnachmittag!😊

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      2. Den Sketch habe ich mir sofort angeschaut: sehr witzig! Manchmal ist es bei uns so ähnlich, aber ich bin sehr früh davon abgekommen, mich darauf einzulassen. 😉
        Ich finde es total spannend, wie sich die Zeiten geändert haben: Heutzutage ist man mit 39 Jahren ja vollkommen im Normbereich, was das Kinderbekommen betrifft.
        Ich wünsche euch auch einen schönen Sonntag! Frühlingsgrüße nach Bella Italia!

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