Immer wieder: Rabenmutter

oder: Schulnoten-Stress

Am vergangenen Wochenende sagte Baby Boss zu meinem Mann und mir: „Immer macht ihr die coolen Sachen ohne uns!“ Wir saßen gerade alle zu fünft im Auto, ich drehte mich zu ihr um und wusste sofort, worauf sie hinauswollte. Ich hatte nämlich erstens zwei Karten für eines der Ed-Sheeran-Konzerte ergattert, die nächstes Jahr in Hamburg stattfinden sollen: für meinen Mann und mich. Und zweitens hatten wir beide anlässlich unseres 18. Hochzeitstages einen Wochenendtrip nach Waren an der Müritz gebucht. DAS waren die coolen Sachen, die wir ohne unsere Kinder unternehmen würden. Dafür sind wir nämlich bekannt: Unsere Kinder wohnen wie Harry Potter in einem Schrank unter der Treppe, während mein Mann und ich im Schloss Bellevue residieren. Sie kauen auf alten Brotkanten herum und brechen sich im Minutentakt Teile ihrer festen Zahnspangen aus dem Mund, während mein Mann und ich unten an der Ecke beim Vietnamesen sitzen. Wir hetzen von Event zu Event, während unsere Kinder unter der Last ihrer Hausaufgaben zusammenbrechen.

Es war nicht leicht gewesen, überhaupt Karten für Ed Sheeran zu bekommen. Ich hatte dafür eine Stunde lang am Rechner gesessen und darauf gewartet, dass andere Fans ihre Tickets nur kurzzeitig reservieren und diese dann später wieder zum Verkauf stehen würden. Es war nervenaufreibend gewesen und ich hatte bis zur letzten Sekunde gebangt. Fast hätte ich Karten für Düsseldorf kaufen müssen, so hoffnungslos war die Lage zwischenzeitlich gewesen.

Baby Boss ist kein Fan von Ed Sheeran, keine meiner Töchter ist es. Warum das Konzert und das Wochenende an der Müritz in Baby Boss‘ Augen plötzlich so attraktiv waren, konnte ich mir nicht erklären. „Wir gehen nie zu Konzerten!“, beschwerte sie sich. Das stimmt zwar, aber auch ich hatte im Alter von 11 Jahren noch nicht ständig irgendwelche Musiker bejubelt.

Baby Boss ist ein niedliches Kind. Fast noch niedlicher wird sie, wenn große Tränen ihre runden, kindlichen Wangen herunterrollen. Egal, was zuvor passiert ist: Wenn sie weint, fühle ich mich von einer auf die andere Sekunde schlecht. Oder auch schuldig. Selbst dann, wenn ich gar nichts getan habe, wofür ich mich schuldig fühlen müsste. Ich glaube, Baby Boss weiß das.

Etwa fünf Minuten, nachdem uns Baby Boss vorgeworfen hatte, wir würden „die coolen Sachen“ ohne sie machen, sah ich, dass sie zu weinen begonnen hatte. Hinten auf der Rückbank des Autos, ganz still und leise. Oh Gott, dachte ich, wie soll ich an ein weiteres Ticket für Ed Sheeran kommen? Am selben Abend, im gleichen Block, am besten neben uns? Und was würde mich das kosten? Besser gesagt: Was würde das meinen Mann kosten?

Aber dann stellte sich heraus, dass Baby Boss gar nicht wegen Ed Sheeran weinte, sondern wegen einer ganz anderen Angelegenheit, die zwar ungleich viel mehr kosten würde, aber in der Organisation deutlich leichter umzusetzen wäre. Ihre Tränen trockneten schnell.

Leider ist das nicht immer so. Neulich zum Beispiel gab es eine Art Vorfall, nach dem ich mich wie eine Rabenmutter gefühlt hatte. Da trug ich wirklich Schuld an Baby Boss‘ Tränen. Es war um ihre schulischen Leistungen gegangen, darum, dass sie zum Schuljahresende von einer „Eins“ in Kunst auf eine „Zwei“ gerutscht war. Dasselbe wäre vermutlich auch in Musik der Fall.

Ich will jetzt gleich mal etwas vorwegnehmen: Ich möchte nicht ehrgeizig und streng erscheinen. Aber ich möchte auch authentisch sein, denn das ist für mich der einzige Weg, wie Schreiben funktioniert. Es ergibt für mich überhaupt keinen Sinn, wenn jemand, der eine Kolumne verfasst, nicht bei sich bleibt, sondern so tut, als wäre sie oder er ganz anders.

Baby Boss ist in der fünften Klasse. Das Zeugnis, das morgen ausgegeben wird, und das, was sie am Ende des ersten Halbjahrs der sechsten Klasse bekommt, ist jeweils sehr wichtig. Denn daraus ergibt sich ihr Notendurchschnitt, mit dem sie sich auf einem Berliner Gymnasium bewerben kann. Die von ihr ausgewählte Schule hat vermutlich wieder einen Numerus clausus von maximal 1,3. Baby Boss hatte zuletzt einen Schnitt von 1,4. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass es dann vielleicht nicht die richtige Schule ist, die sie sich ausgesucht hat. Oder dass wir uns auf dem sogenannten Geschwisterbonus ausruhen könnten, der besagt: Geht ein älteres Geschwisterkind auf die gewünschte Schule, erhält das Kind auch dann einen Platz, wenn der Notenschnitt nicht ausreicht. Dass ich mich einfach mal entspannen sollte.

Das stimmt alles – und dennoch war ich in diesem einen Moment, als Baby Boss von den Noten in Kunst und Musik erzählte, ein bisschen zerknirscht. Und genau aus dem Grund, warum ich meinen Lesern nichts vormachen möchte, will ich auch meinen Kindern gegenüber authentisch sein. Ich kann und will einfach nicht so tun, als ob ich es nicht schade fände, wenn es doch aber so ist. Versteht das jemand? Vielleicht du da hinten mit dem schwarzen Zauberumhang und den leicht fettigen, dunklen Haaren?

Kurzum: ich verbarg meine Zerknirschung nicht. Jede „Eins“, die zur „Zwei“ wird, könnte das Zünglein an der Waage sein – oder ein Anhaltspunkt dafür, dass sich Baby Boss vielleicht lieber ein anderes Gymnasium aussuchen sollte. Was mir übrigens total recht ist! Denn ich finde die Note „Zwei“ nicht schlecht, natürlich nicht! Aber ich frage mich, ob Baby Boss auf der von ihr gewählten Schule halbwegs entspannt und gutgelaunt die nächsten Jahre verbringen oder die ganze Zeit Stress haben wird. Das war es auch, was ich ihr erklärte.

Dabei hätte ich sie vielleicht in diesem Moment einfach nur in den Arm nehmen und sagen sollen: „Das ist alles gar kein Problem, Baby Boss. Du wirst später ohnehin Schauspielerin, da kommt es doch jetzt nicht auf die Noten in Kunst und Musik an!“ Ich hätte das auch gern gesagt – aber ich konnte nicht.

Und Baby Boss weinte und tat mir leid. Vielleicht war es auch ihre eigene Enttäuschung, ich weiß es nicht. Ich musste daran denken, wie der Vater einer meiner Freundinnen mit ihrer älteren Schwester geschimpft hatte, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht verstand. Ich sah die Szene ganz deutlich vor mir, obwohl sie fast vier Jahrzehnte zurückliegt. Und ich fühlte mich gleich noch schlechter.

Ich weiß, dass Erfolg beflügelt und Misserfolg dämpft. Ich weiß nicht, ob es an der Leistungsgesellschaft liegt, in der wir leben, oder ob diese Gefühle ohnehin tief im Menschen verankert sind. Ich möchte, dass Baby Boss vom Erfolg beflügelt wird, aber nicht um des Erfolgs willen, sondern weil es ein gutes Gefühl ist. Wenn sich das auf einer anderen Schule besser umsetzen lässt als auf der auserwählten – ich bin offen für eine Neuwahl.

Mal sehen, wie ihr Zeugnis morgen ausfällt. Für mich hängt die Entscheidung aber nicht nur davon ab.

4 Kommentare zu „Immer wieder: Rabenmutter“

  1. Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag! Ich kann dieses Gefühl total nachvollziehen. Ich WEIẞ, dass Noten nichts Wichtiges über einen Menschen aussagen und eine 2 eine wirklich gute Note ist und dennoch verstehe ich dieses Zerknirschtsein! Meine Tochter, auch Fünftklässlerin, erzählte mir dieses Halbjahr einmal, sie habe sich so über den Sportlehrer geärgert, dass sie zum ihm gesagt habe, wenn er nicht verstehe, dass sie die Übung einfach nicht könne, dann nehme sie lieber die 6 und führe die Übung nicht vor, als sich von ihm kritisieren zu lassen. Obwohl mir klar ist, dass die Karriere meiner Tochter sicher nicht von der Sportnote abhängen wird, schoß es aus mit heraus: „Um Gottes Willen, so was kannst du doch in diesem wichtigen Halbjahr nicht sagen!“ Sofort als ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, wie das gewirkt haben musste und sah die Enttäuschung in den Augen meiner Tochter. Eine Umarmung wäre auch hier die richtige Wahl gewesen….

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    1. Liebe Antonia, danke fürs Teilen. Ich höre so oft anderes: „Entspann dich doch mal.“ / „Ist doch nicht so wichtig.“ / „Sie wird schon ihren Weg gehen.“ Nach außen hin scheinen mir die meisten sehr abgeklärt in dieser Frage. Ich bin es nicht. Natürlich wird Baby Boss ihren Weg gehen. Aber ich möchte, dass es möglichst einer ist, der ihr entspricht. Dieser Notendruck und all das – meinetwegen müsste das auch nicht sein!
      Ich finde es übrigens sehr klar und bestimmt für eine Fünftklässlerin, dem Lehrer auf diese Art entgegenzutreten. Und auch, wenn ich mir als Mutter vielleicht (sehr wahrscheinlich!) ebenso wie du die Haare gerauft hätte – offenbar ist das eine Lektion, die deine Tochter schon in sehr jungem Alter gelernt hat: „Ich muss mich hier nicht zum Affen machen, wenn ich sage, dass ich es nicht kann.“ Finde ich richtig toll!!! Das zeigt Stärke.
      Mir wäre im Sportunterricht die eine oder andere Blamage beim Am-Seil-Hochklettern erspart geblieben, wenn ich so für mich hätte einstehen können. (Das Am-Seil-Hochklettern kann ich natürlich auch heute nicht …)
      Herzliche Grüße, Sophie

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  2. Ich finde es total gut, wenn du authentisch bleibst und dich nicht verstellst in dem Bestreben, deinen Kindern (oder sonst wem) nicht zu nahe zu treten. Ich denke, Baby Boss hat den Punkt verstanden, auf den du hinaus wolltest – und ich drücke die Daumen, dass ganz viele Einsen im Zeugnis stehen!

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