oder: Angst vorm Älterwerden
Es gab Zeiten, in denen wegen jeder Kleinigkeit irgendeine Fee bei uns hereingeschneit ist. Es gab die Schnullerfee und die Däumchenfee und die Zahnfee. Ständig hatte eine meiner Töchter Besuch. Ständig wurden Geschenke überreicht und ausgepackt oder Münzen neben ausgefallene Milchzähne gelegt und am nächsten Tag freudig in die Spardose gesteckt. Zu Weihnachten kam der Weihnachtsmann, zu Ostern der Osterhase, am Nikolaustag selbstredend der Nikolaus.
Es kam nie die Du-hast-eine-monatliche-Rente-von-10.000-Euro-gewonnen-Fee und auch nie die Wir-verlegen-dein-Kinderbuch-Fee. Warum? Weil hinter all den anderen Feen und Schenkern immer mein Mann und ich standen. Neulich hatte ich unverhofft mal wieder einen solchen Einsatz, dabei glaubt bei uns zuhause leider niemand mehr an Magie (außer Baby Boss und ich an magisches Denken).
Vor kurzem sind meiner jüngsten Tochter ihre beiden letzten verbliebenen Milchzähne von ihrer Kieferorthopädin herausgewackelt worden. Sie hatten gestört. Baby Boss‘ Biss hatte sich verändert. Sie hatte begonnen, den Unterkiefer zu weit nach vorn zu schieben. Die Milchzähne, die beiden letzten, waren schuld. Normalerweise hatte ich das oft gemacht: das Herauswackeln. Ich kann das ganz gut. Und jetzt musste ich mit ansehen, wie die Ärztin meinen Job übernahm und mich überflüssig machte, in diesem Moment und für alle Zeiten. Es waren die letzten Milchzähne, ich würde nie wieder welche herauswackeln.
Am Abend, als ich zu Baby Boss auf ihr Hochbett kletterte, um ihr „Gute Nacht“ zu sagen, weinte sie. Es war nicht sofort klar, wieso. Manchmal weint sie über ihre Zwanghaftigkeit und das bricht mir jedes Mal das Herz. Dann komme ich mit solchen Floskeln an wie: „Sieh mal, ich habe doch auch eine Zwangsstörung – und ich führe so ein tolles Leben. Das muss alles gar nicht so schlimm sein.“ Aber ich lag falsch, es ging gar nicht darum. Baby Boss sagte: „Jetzt hat mir Doktor Spange die letzten beiden Milchzähne herausgezogen. Das ist traurig. Ich möchte nicht groß werden.“ Das Verlieren der Zähne als Sinnbild des Alterns! Sie hatte recht!
Ich kuschelte mich neben Baby Boss und ihre hundert Kuscheltiere inklusive Fuchsi und versuchte, sie zu trösten. Ich sagte gar nicht viel, nur irgendetwas in der Richtung, dass sie immer meine Kleinste bleiben würde, mein Baby Boss. Dass sie sich ums Älterwerden keine Sorgen machen bräuchte. Dass es auch Vorteile hätte.
Aber eigentlich kann ich sie gut verstehen. Ich mache mir auch manchmal Sorgen ums Älterwerden. Im Moment gar nicht so sehr um das eigene. Ich habe noch alle meine Zähne, bis auf vier, die mir als Kind gezogen wurden, um Platz im Kiefer zu schaffen, der jetzt von den Weisheitszähnen eingenommen wurde. Neulich beim Zahnarzt hieß es sogar, ich hätte besonders viele Zähne. Ich mache seit Beginn des Jahres jeden Tag Yoga und fast jeden Tag Sport. Meine Haare werden grau, Lachfalten umzingeln meine Augen – was soll’s? Ich fühle mich jung.
Aber ich denke gerade immer wieder über das Älterwerden meiner Eltern nach – und verdränge diese Gedanken schnell wieder. Ich versuche, mir die jüngeren Ausgaben ihrer selbst in Erinnerung zu rufen, aber es gelingt mir nicht. Ich habe meine Eltern sehr lieb und ein enges Verhältnis zu ihnen. Und ich sehe – und es klingt brutal, ist aber nicht so gemeint – ihren körperlichen Verfall.
Ich denke über das Älterwerden von Belle nach, darüber, dass sie im nächsten Jahr mit der Schule fertig sein wird. Darüber, was dann kommt. Sie hat Pläne, ins Ausland zu gehen, natürlich nach Frankreich – und ich wünsche mir einerseits von Herzen, dass sie es tut. Und andererseits möchte ich sie immer bei mir haben. Ich fürchte den Moment, in dem nur noch vier Zahnbürsten in unserem Bad stehen als Sinnbild für ihren Auszug.
Älterwerden bedeutet: Einen neuen Lebensabschnitt beginnen und einen anderen hinter sich lassen. Der Abschied vom Alten kann Angst machen. Bei mir war das bestimmt immer so, auch schon als Kind, es wäre typisch für mich. Was geht einem durch den Kopf? Dass vielleicht genau der Lebensabschnitt, den man hinter sich lässt, der allerschönste überhaupt gewesen ist. Und danach vielleicht nichts mehr kommt, was an diesen Lebensabschnitt heranreicht.
Einmal in meinem Leben ist mir der Abschied von einer bestimmten Phase wirklich schwergefallen. Als klar wurde, dass wir kein weiteres Kind haben würden. Wir haben uns diese Entscheidung sehr schwer gemacht, vor allem ich.
Damals habe ich vielleicht befürchtet, dass dieser Lebensabschnitt mit kleinen Kindern der allerschönste in meinem Leben überhaupt gewesen sein könnte. Mit Babys, die man wie eine Trophäe durch die Gegend trägt, an deren Stirn man schnuppern kann, um diesen süßlichen Geruch zu inhalieren, den sie verströmen. Die ihre ersten Worte sagen, ihre ersten wackligen Schritte tun, bei denen immer alles das erste Mal ist. Und vieles dann schnell wieder das letzte Mal.
Aber meine Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Ich trage keine Babys mehr durch die Gegend, das stimmt. Aber selbst Belle duftet noch gut, wenn ich ihr abends einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn gebe. Und im Leben meiner Kinder gibt es weiterhin ständig erste Male: der erste Auftritt mit der Musical-AG, der erste Urlaub ohne Eltern (Belle in Paris), das erste Mal beim Turnen auf dem Siegertreppchen stehen, der erste Tag auf dem Gymnasium und bald: die erste Abi-Klausur. Die Phase, die ich jetzt erlebe, hat klar das Zeug dazu, die beste überhaupt zu sein!
Ich weiß nicht, warum Baby Boss klein bleiben möchte. Sie konnte es mir nicht erklären, im Bett zwischen all ihren Kuscheltieren liegend. Vielleicht hat Baby Boss die Sorge, dass diese Phase mit Playmobil und Kinderbüchern bald zu Ende geht – und diejenige, die sich anschließt, nicht mehr so gut ist wie das Hier und Jetzt mit den letzten verbleibenden Milchzähnen im Mund als Symbol ewiger Kindlichkeit. Mit 11 muss man sich diese Sorgen eigentlich nicht machen. Das ganze Leben in all seiner Pracht und Fülle liegt vor einem. Aber diese Erkenntnis ist vielleicht vom Lebensalter abhängig.
PS Die Zahnfee brachte ein Playmobil-Set. Es war ein besonders großes Zahnfee-Geschenk. Weil es das letzte Mal war.
Danke für das Teilen deiner klugen Gedanken!
Du hast absolut Recht damit, wenn du schreibst, dass man vielleicht ein gewisses Alter erreicht haben muss, um die Vorzüge des jeweiligen Lebensabschnitts zu erkennen und zu würdigen. Die schönen Augenblicke im Leben werden mit der Zeit nicht weniger, sondern wechseln einander ab und summieren sich am Ende zu einem großen Ganzen.
Marlene Dietrich hat übrigens auch etwas Schönes dazu gesagt:
„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich die gleichen Fehler machen. Aber ein bisschen früher, damit ich mehr davon habe.“
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Das Marlene-Dietrich-Zitat ist geistreich! Ihr Grab befindet sich übrigens auf einem Friedhof ganz in der Nähe meines Wohnhauses im schönen Berliner Ortsteil Friedenau.
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