Zum ersten Mal: Schwimmsachen auf dem Wäscheständer

oder: Von Müttern, Töchtern und Omas

Bevor die Corona-Pandemie begonnen hat, war meine Mutter regelmäßig einmal in der Woche bei uns zu Besuch, und zwar seit Jahren, wenn ich mich richtig erinnere. Sie hat an diesem Tag die Kinder vom Kindergarten oder der Schule abgeholt, manchmal auch nur eines, mal das kleinste, mal das größte, mal das mittlere Kind, selten alle drei, weil die Mädchen nie gleichzeitig an einem Ort waren. (Als die Größte in die Schule gekommen ist, war die Kleinste gerade ein paar Monate alt.)

Meine Mutter hat mit den Kindern gespielt, geredet und vor allem viel gelacht – und während ihres Besuchs manchmal sogar verbotenerweise die Küche aufgeräumt. „Du bist doch wegen der Kinder hier und nicht, um im Haushalt zu helfen“, habe ich dann gesagt, mich aber insgeheim über die Ordnung gefreut. Ich glaube, ich habe mal am Rande erwähnt, dass ich für einen recht bunten Strauß an Aufgaben zuständig bin, zum Beispiel für das Wäschewaschen. Eigentlich bin ich ganz froh, wenn mir bei der Hausarbeit auch mal jemand unter die Arme greift (es sei denn, er hängt zum Beispiel die Wäsche verkrumpelt auf). Meine Mutter sagte jedenfalls immer, dass sie das gern täte, das bisschen Abwasch, sie wisse doch, wie viel ich zu tun hätte. Oft kam sie, wenn ich mal länger arbeiten musste oder andere Termine hatte, manchmal einfach nur so. Es war nicht nur Zeit für die Kinder, die sie mitgebracht hat, sondern auch Zeit für mich.

Während der Pandemie habe ich meine Mutter vermisst, und zwar nicht nur als Unterstützung im Alltag.

Es ist natürlich nicht so, dass wir uns gar nicht gesehen hätten. Aber es gab Kontaktbeschränkungen, an die wir uns gehalten haben, und darüber hinaus waren wir wirklich in Sorge, dass wir die Krankheit bei meinen Eltern einschleppen könnten. Dass wir uns bei ihnen anstecken könnten, erschien uns ausgeschlossen. Wen trafen sie denn schon, der in der Welt herumkam?

Auch unabhängig von geltenden Verordnungen haben wir versucht, das Risiko einer Corona-Infektion so klein wie möglich zu halten. Meine Eltern haben wir in dieser Zeit nur in unserem Gärtchen getroffen, unserem Bullerbü: Ein Pachtgrundstück mit Bungalow aus der Wendezeit ein bisschen außerhalb von Berlin. Wir haben mit Abständen draußen gesessen, meine Eltern mit ihren Stühlen an einem Tisch im Garten, wir mit unseren Stühlen an einem Tisch auf der Terrasse. Es waren weit mehr als die empfohlenen 1,50 Meter, die uns trennten. Aber wenn man so eine blühende Fantasie hat wie ich (manche nennen es auch Hypochondrie), nimmt man das Reden mit lauter Stimme in Kauf, das nötig ist, um weite Distanzen zu überbrücken. Wenigstens hatte ich dann im Nachhinein nicht eines meiner Worst-Case-Szenarien vor Augen, das meinen Vater zeigte, wie er auf dem Bauch liegend beatmet werden muss, sondern einfach nur Probleme mit den Stimmbändern.

Zuhause besucht haben wir uns von März 2020 bis September 2021 nur zu Weihnachten. Das hatte nicht nur mit Corona zu tun – das Wetter war schön, wir konnten uns draußen treffen. Aber so ein bisschen Unbehagen hätte wohl auch mitgeschwungen bei einem Treffen in der Wohnung – ohne die seichte Brise, die die Aerosole verwirbelt. Um uns wieder sorglos drinnen treffen zu können, haben wir gewartet, bis alle Erwachsenen zweifach geimpft waren und damit begonnen wurde, die Kinder zweimal wöchentlich in der Schule zu testen.

Vor ein paar Wochen jedenfalls hat meine Mutter ihre regelmäßigen Besuche wieder aufgenommen. Vielleicht ist es nur ein kleines Zeitfenster, das uns bleibt, bevor die nächste Welle zu rollen beginnt und über uns zusammenbricht. Im Oktober soll ja angeblich alles wieder schlimmer werden, das sagt zumindest Christian Drosten mit Blick auf die Impfzahlen. Ich weiß es nicht, und deshalb versuche ich, das Hier und Jetzt zu genießen. Meine Mutter holt unsere Kleinste von der Schule ab, sie fahren gemeinsam mit den Fahrrädern zu uns oder laufen vertraut nebeneinander her, als hätten sie nie etwas anderes getan, als hätte es Corona nicht gegeben, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.

Neulich habe ich die beiden kommen sehen, als ich nachmittags zu meinem Betriebsausflug aufgebrochen bin: meine Kleinste dynamisch auf ihrem Fahrrad auf dem Bürgersteig, meine Mutter nicht mehr ganz so dynamisch auf ihrem Fahrrad auf der Straße. In der letzten Zeit sehe ich verstärkt meine Oma in ihr. Ist meine Mutter tatsächlich schon über 70? 

Manchmal finde ich es schade, dass ich sie immer so sehe, wie sie gerade ist, also nicht auch mal eine jüngere Version ihrer selbst vor Augen habe – mit Ende dreißig, als ich acht Jahre alt war und meine Oma auf MICH aufgepasst und mit MIR gespielt hat. In meiner Erinnerung haben meine Oma und ich oft den Playmobil-Zirkus aufgebaut und immer hat die Kapelle „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“ gespielt. Also: meine Oma hat das gesungen und ich habe mit großen Ohren zugehört. Das ist eine schöne Erinnerung, die ich mir unbedingt erhalten möchte. Ich muss auch immer an meine Oma denken, wenn ich Yogurette esse, was nicht allzu oft vorkommt, obwohl ich die Schokolade gern mag. Das hat damit zu tun, dass mein Bruder und ich von meiner Oma Taschengeld bekommen haben: 10 DM, die sie Monat für Monat in eine Packung Yogurette geschoben hat.

Ich bin jemand, der unglaublich viel aus kleinen, alltäglichen Dingen ziehen kann, und ich bin jemand, der kleine Gesten mag. So etwas kann mich einen ganzen Tag lang glücklich machen. Manchmal sogar noch länger. Ich bin so eine Art Glückselefant: ich habe ein total gutes Gedächtnis für schöne kleine Begebenheiten. Abends halten wir die besten Erlebnisse des Tages in einem kleinen Büchlein fest, das wir Glückstagebuch nennen. Yogurette essen und dabei an Oma denken könnte darin stehen (und tut es vielleicht sogar auch – ich habe nicht nachgeschaut).

Neulich kam eine Begebenheit mit meiner Mutter dazu. Freitags ist Schwimmtag in der Schule und ich hole meine Kleinste normalerweise um 14 Uhr ab. Weil ich genau zu dieser Uhrzeit ein Telefonat für die Arbeit führen musste, ist meine Mutter zur Schule gefahren. Während ich noch sprach, kamen sie nach Hause, ich saß in unserem Schlafzimmer im Home Office hinter verschlossener Tür. Als das Gespräch zu Ende war, fand ich meine Mutter im Wohnzimmer. Und auf dem Teppich stand unser Wäscheständer mit den Schwimmsachen. Sie hatte sie dort gemeinsam mit meiner Kleinsten aufgehängt. Ganz ordentlich. Genauso wie ich es mag. Ein Hoch auf Mütter, Töchter und Omas.

2 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Schwimmsachen auf dem Wäscheständer“

  1. Danke für diesen wunderbaren Beitrag über Töchter, Mütter und Omas. Ich war wieder ganz gerührt und hoffe, dass ganz viele Enkelkinder so liebevoll an ihre Oma denken, wie du an deine.

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    1. Ich hatte sie einfach sehr lieb.
      Und ich wünschte, sie hätte all ihre Urenkelinnen und ihren Urenkel kennengelernt. Ich denke, sie hätte ihre Freunde an ihnen gehabt.

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