oder: Im Auge des Orkans
Ich habe drei Töchter im Alter von 9 bis 15 Jahren, arbeite halbtags als Redakteurin und betreibe die stark frequentierte Wäscherei „Chez Maman“. Ich räume die Geschirrspülmaschine ein und aus, herrenlose Zopfgummis ins Badezimmer und abgeschleckte Joghurtdeckel in die Küche. Fast täglich fege ich irgendeinen Winkel unserer Wohnung – Parkettboden ist schön, zieht aber Wollmäuse an. Ich schreibe wöchentlich für einen Blog und koordiniere und begleite Termine meiner Töchter, am liebsten die bei der Kieferorthopädin. Meine To-do-Liste ist manchmal länger als mein Geduldsfaden.
Kann sich jemand vorstellen, wie oft ich am Tag irgendwo liege? Flach auf dem Boden? Alle viere von mir gestreckt? Die Antwort lautet: Nie. Nachdem ich mich morgens gegen halb sieben schwerfällig aus dem Bett kämpfe (es ist einfach nicht meine Zeit), bin ich nicht mehr liegend anzutreffen, bis ich mich abends gegen 22 Uhr unter meine Decke kuschle. So war es zumindest bis vor kurzem, genauer gesagt: bis ich Anfang Januar die Yoga-Challenge einer berühmten deutschen Yoga-YouTuberin begonnen habe. Sie heißt Mady Morrison und ich habe mich vor einiger Zeit in ihr freundliches, herzliches Wesen schockverliebt, folge ihr auf Instagram wie 876.000 andere auch. Ich habe auch ein freundliches, herzliches Wesen, aber nur knapp 60 Follower. Ich drehe allerdings auch keine Yoga-Videos. Und wenn man es genau nimmt, habe ich bis Anfang Januar auch so gut wie nie Yoga gemacht.
Yoga-Challenge bedeutet: Mady Morrison schickt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen Stundenplan mit Verlinkungen zu ihren Videos auf YouTube. Jeden Tag gibt es ein anderes Programm von Sunshine Morning bis Yoga Abendroutine. Und jeden Tag soll man zu einem dieser Videos Yoga machen. (Nicht nur anschauen!) Die Challenge dauert 30 Tage, die Videos sind unterschiedlich lang.
Seitdem liege ich tatsächlich täglich einmal kurz am Boden, in der Schlussentspannung Shavasana, ein oder zwei Minuten auf meiner lila Yoga-Matte, meist mitten im Wohnzimmer, weil es unser größter Raum ist. Ich liege dort umgeben von Familienmitgliedern, die am Tisch sitzen und Hausaufgaben machen oder lesen oder ein Computerspiel auf dem Tablet spielen oder singen (Baby Boss) oder mir bedeuten, ich solle die Augen schließen, wenn Mady das sagt (Baby Boss). Umgeben von Aufgaben, die auf mich warten. Umgeben von Wollmäusen. Aber das macht nichts, denn ich kann trotzdem abschalten. Im Auge des Orkans bin ich ganz ruhig und hoffe jeden Tag, dass die Schlussentspannung heute länger dauert als sonst (wieso nicht fünf Minuten oder zehn?) und ich noch eine Weile liegen bleiben kann, bevor mich Madys Stimme sanft zurückholt in diese Welt. Seitdem ich die Challenge begonnen habe, freue ich mich jeden Tag auf diesen Moment. Wer meint, ich könne mich einfach gleich hinlegen, hat das Wesen der Schlussentspannung nicht verstanden. Sie tut so gut, weil ich mich vorher gestretcht und gedehnt, gebeugt und gedreht habe.
Das finde ich übrigens nicht immer einfach. Krieger I und Krieger II und Puppy Pose und der herabschauende Hund und der aufschauende Hund und Katze, Kuh und Kobra. Und dazu noch atmen. Vor allem atmen! Und die Balance halten. Und beweglich sein. Ich gebe zu: ich habe teilweise Schwierigkeiten, mit allen Übungen mitzukommen. Das erste Mal passierte mir das leider schon an Tag drei der Challenge. Ich habe das Video nicht zu Ende geschaut und den Computer heruntergefahren. Dann aber gedacht: Das ist doch jetzt doof. Ich kann doch nicht gleich den Yoga-Klotz ins Korn werfen. Deshalb habe ich den Computer wieder hochgefahren und ein anderes Video gemacht, mit dem ich gut zurechtgekommen bin. Das von Tag 1. Wenn Mady zu Beginn der Yoga-Sequenz andeutet, dass sie eher für Fortgeschrittene sei, suche ich mir jetzt sofort etwas Leichteres aus ihrem Programm.
Manchmal komme ich an einem Tag nicht dazu, Yoga zu üben. Dann mache ich am nächsten Tag zwei Videos. Das ist wahrscheinlich nicht der Sinn der Sache. Aber ich fühle mich trotzdem nicht, als würde ich schummeln. Ich glaube, die Hauptsache ist, am Ball zu bleiben. Und zu merken, wie gut einem das tut. Vieles im Leben entfaltet seinen vollständigen Reiz oder seine Wirkung erst, wenn man es eine Weile lang macht, am besten sogar in seine tägliche Routine aufnimmt. (Das gilt nicht fürs Wäschewaschen.)
Als ich vor vielleicht einem Jahr das erste Mal zufällig auf Mady Morrison stieß, hatte ich bei YouTube Übungen für Nacken und Schultern gesucht. Meine Halswirbelsäule ist so eine Art Achillesferse für mich und ich neige zu Verspannungen und schlechter Haltung, vor allem wenn ich am Rechner sitze. Das Video dauert knapp 12 Minuten. Die Übungen taten mir sehr gut, aber der Funke ist vor allem aus einem anderen Grund übergesprungen: Ich fühlte mich abgeholt. Ich fühlte mich „gemeint“, so, als ob das Video eben auch genau für mich gedreht worden wäre. Was es natürlich nicht ist, schon klar, aber das Gefühl war trotzdem da. Ich verrate noch etwas: Ich fühle mich auch angelächelt, wenn Mady lächelt. So geht es mir auch bei den anderen Videos. Ich glaube, das ist Mady Morrisons Geheimnis. Selbst bei Sequenzen, bei denen ich nicht mithalten kann, fühle ich mich angesprochen, weil ich das Gefühl habe, vielleicht irgendwann dahin kommen zu können. Und zwar ohne vorher eine Prüfung in Om-Shanti-Gesängen abgelegt zu haben.
Und noch etwas berührt mich und das ist vielleicht sogar das Wichtigste von allem. Die Yoga-Sequenzen enden mit etwas, das ich im Alltag manchmal zwischen all den Terminen bei der Kieferorthopädin, den Artikelabgaben, Joghurtdeckeln und Wollmäusen vergesse: mir selbst zuzulächeln. Namaste.
PS Und hier noch ein paar Randnotizen zum Thema Vereinbarkeit von Yoga und Familie: Einmal habe ich nach der Schlussentspannung die Augen aufgeschlagen und direkt in das Gesicht von Baby Boss geblickt, die sich unbemerkt neben mich gestellt hatte. / Ich habe mir eine Jogginghose aus Madys Kollektion bestellt. Belle zitierte dazu Karl Lagerfeld: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ / Ich sitze am Ende einer Sequenz auf meiner Yoga-Matte, Mady spricht noch ein paar sanfte Worte, ist fast am Ende und bevor sie es selbst sagen kann, höre ich Baby Boss‘ Stimme vom Wohnzimmertisch: „Namaste.“
PPS Der Text soll keine Werbung sein, zumindest werde ich wie üblich nicht dafür bezahlt. Ich wollte einfach nur „Danke“ sagen. Das passiert viel zu selten.
Ich habe zwar mit Yoga nichts am Hut, habe den Text aber dennoch genossen und geschmunzelt, als Baby Boss ihre wiederholten Auftritte hatte 😉
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Ich liiiiiiiebe Mady Morrison 😉
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Na, wenn dein Bericht keine Werbung ist, liebe Sophie, dann weiß ich ja nicht. Unverlangt ist sowieso die beste, weil authentisch. Früher hieß das „Mundpropaganda“ und unterlag keinerlei gesetzlicher Regelung. 😀 Ob ich noch auf Yoga komme, bezweifle ich, aber die 10 Minuten für Schultern und Nacken muss ich ausprobieren. Da liegt nämlich auch mein Zentrum des Leidensdrucks. 🥴
Liebe Grüße aus Italien!
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