Zum ersten Mal: Vom Streik betroffen

oder: Fahr mal wieder Bahn

Ich lese gern die Kolumnen des Journalisten und Schriftstellers Harald Martenstein. Er schreibt zum Beispiel für das ZEITmagazin, zu dem ich allein schon aus privaten Gründen eine gute Beziehung habe. Ich teile Herrn Martensteins Ansichten nicht immer. Aber ich finde, dass er das Schreiben dermaßen gut beherrscht, dass ich mir gern ein Scheibchen davon abschneiden würde. Sehr oft bringen mich seine Texte zum Lachen, manche machen mich nachdenklich oder sogar betroffen. Manche schaffen alles auf einmal. Ich habe ihm das in einem Leserbrief mitgeteilt, dem ersten, den ich je geschrieben habe. Er hat mir sogar geantwortet, was mich sehr froh gemacht hat.

Harald Martenstein schreibt des Öfteren über die Deutsche Bahn und ich kann verstehen, wie es dazu kommt. Denn wenn man des Öfteren mit der Deutschen Bahn unterwegs ist, drängen sich Geschichten förmlich auf, die es wert sind, in einer Kolumne verarbeitet zu werden.

Bei meiner letzten Bahnreise zum Beispiel wurde ich von einer Mitreisenden irrtümlich in die Schublade mit der Aufschrift „latent ausländerfeindlich“ gesteckt. Eine falschere Schublade gibt es eigentlich kaum für mich. Mein Mann und ich fuhren von Berlin-Südkreuz nach Hamburg und hatten es uns auf den von uns reservierten Plätzen gemütlich gemacht. Am Hauptbahnhof stieg jemand zu, der auf Englisch meinen Sitz für sich beanspruchte. Ich bekam einen Schreck, mir schoss eine Ladung Adrenalin ins Blut, mir wurde heiß und ich lief rot an. Leider passieren mir solche körperlichen Reaktionen immer wieder, ich kann dem nichts entgegensetzen. Ich fühlte mich, als wäre ich beim Schwarzfahren ertappt worden.

Dann stellte sich heraus, dass der Mann nur nicht richtig geschaut hatte und im falschen Wagen gelandet war. Es war also gar nicht sein Sitzplatz. Als er wieder gegangen war – mutmaßlich zu seinem Sitzplatz im anderen Waggon –, sagte ich zu meinem Mann etwas wie: „Der hätte ja ruhig vorher genauer schauen können.“ Ich sagte es nicht böse oder barsch. Ich sagte es nur, um mich ein bisschen runterzuregulieren. Daraufhin mischte sich eine Frau ein, ebenfalls nicht aus Deutschland, und sagte sehr vorwurfsvoll und sehr scharf: „Aber er hat sich doch entschuldigt.“ Mir war so, als ob sie auch noch den Kopf über mich geschüttelt hat. Ich wünschte, das wäre mir egal gewesen. Aber eigentlich habe ich mich die restliche Zugfahrt innerlich über diesen Kommentar geärgert und mich hinter dem ZEITmagazin verschanzt. Es befand sich ein sehr lesenswertes Interview mit John Grisham darin und eine Martenstein-Kolumne, die zum Thema „In-Schubladen-gesteckt-Werden“ passte.

Auch die nächste Bahnfahrt sorgt für eine erzählenswerte Geschichte, dabei steht sie noch bevor. Oder vielmehr: Hoffentlich steht sie noch bevor! Sie soll nämlich heute stattfinden, aber bekanntlich wird gestreikt. Ich habe das Gefühl, dass jede Bahnfahrt, die ich unternehme, irgendwie dringend ist, aber diesmal ist sie es ganz besonders, weil wir nach Bamberg fahren wollen, wo morgen meine Nichte konfirmiert wird. Ihr ist es wichtig, dass wir kommen. Und uns ist es wichtig, dass wir kommen! Wir wollten die Bahn nehmen, um etwas für den Klimaschutz zu tun. Außerdem dauert die Fahrt auf den Schienen nur zweieinhalb Stunden statt mindestens vier, die wir mit dem Auto brauchen.

Eigentlich wollte ich diesmal über meinen Vater schreiben und nicht über die Bahn. Er wird nämlich heute 75 Jahre alt. Ein Dreivierteljahrhundert, wie er gern sagt. Wir wollten heute alle zusammen im Zug nach Bamberg sitzen. Ich hatte geplant, Kuchen mitzubringen. Ich hatte mir das alles sehr schön vorgestellt. Aber meine Eltern sind schon gestern gefahren, sie konnten umbuchen und wollten auf Nummer sicher gehen. Falls es zu einem Verkehrschaos beim Bahnverkehr kommt, der Zug ebenso ausfällt wie viele andere und wir keinen späteren bekommen, droht die Fahrt mit dem Auto. In ihrem alten Diesel zu fahren, wäre zu anstrengend für meine Eltern gewesen. Mein Vater ist ein Dreivierteljahrhundert alt! Da spult man die 400 Kilometer nicht mehr so leichtfüßig herunter. Mit uns im Siebensitzer wollten sie nicht fahren. Das ist übrigens unser Plan B für heute Nachmittag. Und ich denke mir die ganze Zeit: Bitte nicht! Bitte, lieber Zug, fahre! Fahre!!!

Ich musste über den Satz nachdenken „Life is what happens to you while you’re busy making other plans”. Das Zitat stammt von John Lennon und ist eine Zeile aus dem Lied „Beautiful Boy“. Ich frage mich, wie viel Leben meinem Vater in seinen 75 Jahren dazwischengekommen ist, wie viele seiner Pläne über den Haufen geworfen wurden, wie oft er nach seinem Lieblingsmotto handeln musste: Schaden begrenzen und Panik vermeiden. Einige Geschichten kenne ich natürlich, zum Beispiel die von der geplanten Amerika-Reise, die wegen der dortigen Ölkrise im Herbst 1973 ins Wasser gefallen ist. Stattdessen waren meine Eltern gemeinsam mit einem befreundeten Paar wochenlang in Skandinavien unterwegs. Mit einem eigens für diese Reise gekauften VW-Bus. Die 70er-Jahre eben. Sie erzählen noch heute davon. Zum Beispiel die Geschichte, wie sie Hochprozentiges in Bierflaschen ins Land geschmuggelt haben, weil Alkohol in Skandinavien so teuer ist und es auch damals schon war.

Zuletzt hat die Corona-Pandemie unzählige Pläne durchkreuzt, auch die meiner Eltern. Vielleicht gewöhnt man sich mit zunehmendem Alter daran, dass sich Dinge ganz anders entwickeln als geplant. Vielleicht macht es einem weniger zu schaffen, vielleicht aber auch mehr, weil nicht mehr so viel Zeit dafür bleibt, Ereignisse nachzuholen, auf die man sich gefreut hat.

Gestern habe ich endlich einen alten Artikel im ZEITmagazin gelesen, den ich nicht verpassen wollte. Es ist die Titelgeschichte der Ausgabe vom 29. Dezember des vergangenen Jahres. Normalerweise wäre das Magazin längst bei meinem Vater gelandet, denn wir geben die ZEIT weiter, nachdem wir sie gelesen haben. Die Titelgeschichte trägt den Namen „Mit 70 hat man noch Träume“ und ist sehr lesenswert. Geschrieben hat sie Harald Martenstein. Heute bringe ich das Magazin meinem Vater nach Bamberg mit – im Zug oder zur Not auch im Auto. Herzlichen Glückwunsch!

2 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Vom Streik betroffen“

  1. Liebe Sophie,
    Danke für den gelungenen Beitrag. Du hast wieder mal den „Nagel auf den Kopf“ getroffen. Der Follower hofft auch, dass ihr doch noch nach Bamberg gelangt, eventuell im Schneckentempo, oder nach Art der „Echternacher Springprozession“ (zwei Schritte vor- einen zurück).
    Ich freue mich, wenn alles doch noch klappt.
    Und Danke für die Glückwünsche
    Es grüßt der Follower

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Follower, über den Hinweis auf die Springprozession musste ich sehr lachen. So fühle ich mich oft, ganz egal, wohin ich gehe. 😉
      Den heutigen Tag hätte ich besonders gern mit dir verbracht, aber ich fühle mich dir auch aus der Ferne sehr nah.
      Unser Zug geht morgen um 7.41 Uhr nach Bamberg. Das auch als Update für alle anderen Leserinnen und Leser. 😉 (Vorerst also keine irrwitzige Autofahrt in der Blechlawine am Nadelöhr Leipzig vorbei.)
      Es grüßt sehr herzlich: Sophie aus Berlin

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