Immer wieder: Fisch sucht Fahrrad

oder: Menschen, die mir gefehlt haben

Vor kurzem habe ich die Kolumnensammlung „Kummer aller Art“ von Mariana Leky gelesen. Frau Leky schreibt mir oft aus der Seele, bringt mich zum Lachen (laut) oder Weinen (still und leise) und rangiert auf der Liste meiner Lieblingskolumnisten direkt hinter Harald Martenstein, manchmal auch vor ihm. Unter der Überschrift „Frau Wiese schließt eine Lücke“ erzählt sie in ihrem Buch von dem Moment, in dem man jemanden sieht und sofort weiß, dass sie oder er einem immer gefehlt hat, obwohl einem das vorher gar nicht aufgefallen ist. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, dass ich das geschrieben hätte. Denn es würde mir ähnlichsehen. Ich habe in meinem glücklichen Leben auch schon Menschen getroffen, die mir schon immer gefehlt haben. Meist wusste ich es sofort, denn ich neige zur Schockverliebtheit. Manchmal hat es drei, vier Minuten gedauert, bis ich es erkannt habe.

Ich weiß nicht, ob mir alle Menschen, die mir gefehlt haben, bereits über den Weg gelaufen sind. Ich bin offen für weitere Begegnungen, dieses Gefühl, sich schon ewig zu kennen, die unverhoffte Vertrautheit, die Inspiration, die davon ausgeht. Ich fände es schön, wenn da noch jemand käme. In meinem Herzen ist viel Platz. Es wächst mit seinen Bewohnern. Vielleicht du da hinten mit den dünnen Haaren?

Heute früh habe ich meine Freundin Schneewittchen auf eine Kaffeerunde getroffen. Kaffeerunde bedeutet: Wir holen uns im weltbesten Friedenauer Café in unseren weltbesten Kaffee-to-go-Bechern den weltbesten Kaffee und gehen ein bisschen spazieren, den Kaffee in unseren Bechern im Takt unserer Schritte schwenkend. Schneewittchen ist so ein Mensch, der mir – ohne, dass ich es gewusst hätte – immer sehr gefehlt hat, und den ich erfreulicherweise getroffen habe. Wir waren zwar schon Anfang dreißig, als wir uns kennenlernten, aber unsere Seelen haben schon vorher zusammengewohnt. Ich glaube, sie lebten auf Bornholm in einer Hütte in den Dünen und haben dort jeden Morgen gemeinsam Kaffee getrunken. Auf Bornholm, stellten wir sehr schnell fest, waren wir als Kinder beziehungsweise Jugendliche oft und leider unabhängig voneinander. Zwischenzeitlich haben wir dort mehrmals gemeinsam Urlaub gemacht.

Ich möchte jetzt nicht „freaky“ klingen, aber Schneewittchen ist jemand, der mich ganz diffus daran glauben lässt, dass es vielleicht frühere Leben gibt, in denen man schon einmal miteinander zu tun hatte.

Heute waren wir nicht zu zweit unterwegs, sondern zu dritt. Ihr fünfjähriger Sohn war mit dabei und wir liefen keine Runde, sondern standen Kaffee trinkend auf einem Spielplatz. Ich sehe ihren Sohn nicht oft, wir treffen uns meist ohne Kinder. Er fuhr Seilbahn und kletterte und rief seiner Mutter zu, dass sie ihm zuschauen solle. Und dann: „Sophie, schau auch mal, was ich kann.“ Das hat mich gerührt. Meine Töchter klettern mir nicht mehr so oft etwas vor. Das ist schade, aber es ist der Lauf der Dinge.

Manchmal denke ich über das Älterwerden nach. Manchmal spreche ich mit Schneewittchen darüber. Heute auf dem Spielplatz hat ihr kleiner Sohn nach meinem Alter gefragt. Ich habe es nicht gehört, er hat es ihr ins Ohr geflüstert. Aber ich konnte aus Schneewittchens Antwort auf seine Frage schließen: „Wir sind etwa gleich alt.“ Oh Gott, dachte ich kurz, hält er mich jetzt etwa für viel älter? Aber dann habe ich festgestellt, dass das vollkommen okay wäre. Ich könnte gut damit leben, neben Schneewittchen alt auszusehen. Sie ist wirklich sehr schön. Und ihre innere Schönheit kommt auch noch dazu und strahlt mit ihrem Aussehen um die Wette.

Manchmal begegnen wir uns zufällig auf der Straße. Dann sehe ich sie schon von weitem lächeln. Und sie sieht mich lächeln. So haben das unsere am Strand lebenden Seelen wahrscheinlich schon immer gemacht: sich zugelächelt.

Gestern hatte ich Klavierunterricht und ich denke immer mal wieder darüber nach, damit aufzuhören. Ich weiß einfach nicht, ob ich je wirklich gut werden kann. Manchmal fühle ich mich beim Spielen sehr unbegabt und frage mich, ob ich die Zeit nicht mit etwas anderem füllen sollte oder müsste, Wäsche waschen zum Beispiel. Aber jedes Mal, wenn ich Unterricht habe, merke ich, dass ich darauf zwar verzichten könnte, nicht aber auf meinen Klavierlehrer. Wir können leider nicht befreundet sein, weil er ja schon eine andere Rolle innehat. Oft kann man eine zwischenmenschliche Beziehung nicht einfach so umstrukturieren und umbenennen. Er ist eben mein Klavierlehrer. Aber unabhängig davon auch mein Zen-Meister, weil er immer so wahnsinnig kluge Sachen sagt und ich mich ihm auf eine gewisse Art sehr verbunden fühle. Ich spreche zum Beispiel gern über das Schreiben mit ihm, wie sehr es mich erfüllt, und darüber, wie ich arbeite. Und ich habe das Gefühl, dass er jedes Wort versteht. Er ist Komponist, er schreibt Musik, vielleicht liegt es daran. Aber wer weiß? Vielleicht hat es auch seine Seele schon mal nach Bornholm verschlagen, dem beliebten Seelentreffpunkt.

Ich denke gern darüber nach, was es für ein Geschenk ist, mit anderen Menschen durchs Leben zu gehen – ganz egal, ob sie dabei eine Haupt- oder eine Nebenrolle spielen. Ich schreibe gern darüber. Manches kann ich manchen Menschen auch einfach nicht direkt sagen. Das hat dann oft mit den Rollen zu tun, die das nicht zulassen. Eigentlich ist es schade, man beschränkt sich sehr schnell selbst.

Anderen hingegen sage ich ganz offen, dass ich sie für ein Geschenk halte. Ich bin allerdings sehr rührselig und vergieße schnell ein paar Tränen dabei. Manchmal ist mir das unangenehm, aber nicht vor Schneewittchen. Im Zweifel weinen wir beide. Morgens, mit unseren Kaffee-to-go-Bechern in den Händen. Heute, morgen, jederzeit.

5 Kommentare zu „Immer wieder: Fisch sucht Fahrrad“

  1. Schöne Gedanken, die du da entwickelst. Leider kann ich momentan nicht behaupten, dass ich Seelenverwandte habe. Oder ich habe sie verloren. Sollte ich mal nach Bornholm reisen? Obwohl, da fällt mir ein: Morgen Abend treffe ich einen ehemaligen Kollegen, von dem ich mal geträumt habe, dass er mein Bruder sei. (Keine falschen Vermutungen bitte, mein Mann kommt mit und seine Frau auch). Ich überlege, ob ich ihm diese Anekdote „gestehen“ soll. Vielleicht erfahre ich auf diese Art, dass es ihm ähnlich ging. Aber dann kommen unsere Angetrauten womöglich doch ins Grübeln, hi hi.😉

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    1. Ach, liebe Anke, du schreibst immer so herzige Sachen. Auf deinem Blog und bei mir. Ich muss so oft schmunzeln und denke gerade, dass du auch zu meinen Lieblingskolumnisten gehörst. 🥰
      Vielleicht solltest du über den Traum schreiben. So würde ich das machen. 😉
      Und Bornholm lohnt sich übrigens so oder so, also auch ohne Seelenverwandte zu treffen. Aber deinem Mann könnte es dort zu kalt sein. 😉
      Herzliche Grüße!

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      1. Danke dir, liebe Sophie. 😊 Dein Lob bedeutet mir viel.
        Wenn ich deine Texte lese, muss ich auch immer laut „genau“ rufen oder leise nicken. Kürzlich ging es um das letzte Mal mit der Tochter Mathe üben. Für mich fängt es gerade an, fürchte ich. Geometrie. Ich erinnere mich kaum in meiner Muttersprache, aber man kann ja nachlesen. In Italienisch habe ich dann trotzdem noch nicht die richtigen Begriffe parat. Ich hoffe noch, meinem Mann diese Aufgabe übertragen zu können. Drück mal bitte die Daumen!
        Oh ja, Bornholm ist für meinen Südländer viiieeel zu nördlich. Aber auch die Anreise ist etwas umständlich von uns aus. Ich wäre schon froh, wenn wir es mal wieder an die deutsche Ostseeküste schaffen würden. 🤷‍♀️

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