Immer wieder: An der Tür lauschen

oder: Weiches Herz

Ich weiß, dass ich es nicht tun sollte. Und wahrscheinlich sollte ich erst recht nicht darüber schreiben, weil sie es lesen wird. Aber ich kann einfach nicht anders. Die Versuchung, an der Tür zu lauschen, während Baby Boss Gesangsunterricht hat, ist einfach zu groß. Und schreiben möchte ich darüber, weil ich das dringende Bedürfnis habe, dem tristen Januar etwas entgegenzusetzen. Baby Boss singt im Wohnzimmer, ihr Lehrer begleitet sie am Klavier, ich stehe im Flur und lausche ihrer glockenklaren Stimme und staune und lasse mich davontragen und vergieße ein paar Tränen der Rührung.

Mein Vater sagte neulich zu mir, ich solle in Zeiten, in denen viel Trauriges um mich herum passiert, trotzdem immer wieder versuchen, den Blick auf die schönen Dinge im Leben zu lenken. Er ist Psychologe, er weiß, wovon er spricht. Er ist Vater, das macht ihn zu einem noch besseren Ratgeber. Er sagte, ich solle an meine Töchter denken, was die Mädchen für ein großes Glück seien. Das stimmt. Sie sind die Antwort auf all meine Fragen.

Vor ein paar Tagen stand ich wieder hinter der Tür, während Baby Boss „When we were young“ von Adele gesungen hat. Sie ist noch nicht einmal elf Jahre alt und so talentiert. Und ihr wahnsinnig talentierter und warmherziger und begeisterungsfähiger Gesangslehrer bestärkt sie und ruft laut „Yes“, wenn sie ihre Sache gut macht, und ist überhaupt der allerbeste Gesangslehrer, den man sich wünschen kann. Und ich lasse mich von Baby Boss‘ Gesang berühren und bin froh, dass ich dafür so durchlässig bin. Ich stelle mich extra dorthin, ich möchte ein paar Tränen vergießen. Nicht nur, weil Baby Boss so schön singt, sondern auch, weil ich überanstrengt bin und um mich herum so viel Trauriges passiert und weil ich ein Ventil brauche, um ein paar Gefühle loszuwerden.

Diese Durchlässigkeit macht mein Herz nämlich manchmal ganz schwer. Zum Beispiel, wenn Menschen, die mir etwas bedeuten, traurige Dinge widerfahren. Dann empfinde ich im wahrsten Sinne des Wortes Mitleid. Manchmal frage ich mich, ob ich mich vielleicht besser abgrenzen und mir das Leid der anderen nicht so zu Herzen nehmen sollte. Ich habe darüber viel in meinem unveröffentlichten Jugendbuch „Viggo“ geschrieben, das hat schon fast autobiografische Züge. Aber eigentlich will ich das gar nicht: mich abgrenzen. Vielleicht macht es mich exakt zu dem Menschen, der ich bin.

Vor ein paar Tagen endete die Yoga-Sequenz aus Mady Morrisons 31-Tage-Challenge nicht nur wie jedes Mal damit, dass man die Hände vor der Brust zusammenbringen sollte. Hinzu kam die Aufforderung, die gefalteten Hände an die Stirn zu führen (für klare Gedanken), an die Lippen (für ehrliche Wort) und an die Brust (für ein offenes und mitfühlendes Herz). Das hat mich wirklich berührt, fast so, wie Baby Boss‘ Gesang. Und allein schon deshalb mag ich Yoga und Mady.

Ist es nicht also gut, ein mitfühlendes Herz zu haben – selbst, wenn es einem manchmal oder vielleicht sogar oft sehr schwer wird? Vielleicht funktioniert dieses Sprichwort „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ ja tatsächlich und schwere Stunden lassen sich leichter ertragen, wenn es Menschen gibt, die die Last ebenfalls schultern. Ich habe diese Erfahrung gemacht. Aber auch, wenn es nicht so wäre, würde ich versuchen, anderen zur Seite zu stehen.

Zurück zu Baby Boss im Wohnzimmer. Wenn ich mir meine Töchter ansehe oder in diesem Fall anhöre, dann bewundere ich sie vielleicht am meisten für Dinge, die ich nicht kann. Ich muss in meinen Töchtern keine kleine Ausgabe meiner selbst finden. Ich mag es, wenn sie eigene Talente entfalten, ihre eigenen Wege gehen. Keine muss in meine Fußstapfen treten oder – schlimmer noch – Dinge tun, zu denen mir selbst der Mut gefehlt hat, und sie es jetzt gewissermaßen richten sollen. Wenn Baby Boss singt, klingt es, als ob jeder Ton von Herzen kommt, offen und mitfühlend. Sie hat ein Selbstbewusstsein, das ich nie erreichen werde, und dabei ist sie mehr als 30 Jahre jünger als ich.

Ich mag es, wenn Baby Boss und Supergirl Turnwettkämpfe haben und sie ihr Können unter Beweis stellen. Rein gar nichts von alledem habe ich jemals geschafft, Übungen zum Beispiel, die Supergirl gefühlt nur macht, um sich aufzuwärmen: Aufschwung, Umschwung, Unterschwung. Handstand, Radschlag, Flugrolle. Neulich habe ich Supergirl gestanden, dass ich auch gern einen Handstand können würde – oder einen Klimmzug. Das wird unerreichbar bleiben – es sei denn, Mady startet eine 1.000-Tage-Handstand-Challenge, bei der man jahrelang darauf hintrainiert. Dann mache ich sofort mit.

Auch Belle hat viele Talente, die meilenweit von meinen eigenen Fähigkeiten entfernt liegen. Sie wird alles erreichen können, was sie sich vornimmt, denke ich oft. Nicht nur, weil sie so klug ist, sondern auch oder vor allem, weil sie so sozial ist. Ich weiß nicht, ob ich schon mal darüber geschrieben habe: Im Kindergarten gab es mal eine geheime Umfrage, um die Gruppendynamik besser zu erfassen. Dabei kam heraus, dass alle Kinder gern mit Belle befreundet gewesen wären. Das kann ich sehr gut verstehen. Wäre sie nicht meine Tochter, würde ich auch gern mit ihr befreundet sein. Ein weiteres Talent, das sie von mir unterscheidet: Sie ist eine sehr anmutige und feingliedrige Ballerina. Mir wurde als Kind die Tür zur Ballettschule quasi vor der Nase zugeschlagen mit der Begründung, dass ich zu dick wäre. So war das in den 80er-Jahren nun mal.

Aber bei allem, was meine Töchter von mir unterscheidet, haben wir auch einiges gemeinsam. Das Wichtigste: Auch sie haben alle dieses durchlässige Herz. Vielleicht wird es ihr Leben manchmal trauriger machen. Aber ganz sicher auch sehr viel glücklicher.

6 Kommentare zu „Immer wieder: An der Tür lauschen“

  1. „Ist es nicht also gut, ein mitfühlendes Herz zu haben – selbst, wenn es einem manchmal oder vielleicht sogar oft sehr schwer wird?“ – Auf jeden Fall, liebe Sophie! Empfindsamkeit macht Menschen zu besseren Menschen, davon bin ich überzeugt. Danke für deine ans Herz gehenden Worte.

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  2. Liebe Sophie, du weinst vor Stolz, das dürfen deine Mädchen lesen. Mir ging es oft so, als ich die letzten fünf Minuten beim Turnen zugucken durfte. Aber nicht nur wegen meiner Töchter, sondern ganz allgemein ergriff mich diese freudige Wehmut, dass all diese Mädchen so enthusiastisch diesem wunderbaren Sport nachgingen. Wenn sie dann noch mit Musik für den nächsten Wettkampf probten. Oder beim Wettkampf alle einmarschierten. Ich glaube, es ist dieses ganz bei der Sache sein, sich voll einsetzen, an etwas glauben, das uns Mütter den Elan unserer Jugend wieder spüren lässt, den wir glauben verloren zu haben, so abgeklärt und rational, wie wir manchmal agieren (müssen, sollen?). Es ist ein Trost, zu sehen, zu spüren oder wie hier bei deiner kleinen Sängerin zu hören, dass der gute Glaube weiterlebt, in ihnen. Und dank ihnen können wir auch wieder glauben.
    War ich jetzt zu pathetisch? Dann gebe ich dir und deinem ehrlichen Text die Schuld! 😘
    Liebe Grüße von Anke

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    1. Liebe Anke, ich verstehe ganz genau, was du meinst: Mich erfasst es auch immer wieder, wenn ich sehe, dass andere etwas mit Leidenschaft tun. Egal, ob Sport, Kunst oder vielleicht auch einfach Ehrenamt. Dieser Einsatz, diese Begeisterung für eine Sache, das finde ich sehr inspirierend. Beim Sport kommt für mich auch das hinzu, was als Teamgeist bezeichnet wird. Das habe ich gerade wieder am Wochenende bei einem Turnwettkampf meiner Jüngsten erlebt. Wie die Mädchen miteinander umgehen – davon können sich manche Erwachsene eine Scheibe abschneiden. Darüber kann ich übrigens auch Tränen der Rührung vergießen und ich finde das auch ein Stück weit ansteckend, den Teamgeist, meine ich. Und das ist gut so!
      Und nein, zu pathetisch warst du nicht. Um ehrlich zu sein: Ich wünschte mir insgesamt ein bisschen mehr Gefühl und weniger Abgeklärtheit in der Welt. Große Worte, große Gesten und – noch besser – große Taten. Und gern auch kleine Worte, kleine Gesten und kleine Taten, wenn du verstehst, was ich meine. 😉
      Herzliche Grüße, Sophie

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