Zum ersten Mal: Vorfreude verlernt

oder: Schützt es, in Worst-Case-Szenarien zu denken? Und wenn ja, wovor?

Bei manchen Geschichten überlege ich, ob ich sie nicht am besten erst erzähle, wenn sie vorbei sind. Das hat den Vorteil, dass ich dann das Ende kenne und weiß, ob die Geschichte gut ausgegangen ist oder nicht. Vielleicht habe ich nämlich gar keine Lust mehr, darüber zu schreiben, wenn sie schlecht ausgegangen ist. Ich bin so jemand, der Happy Ends mag, vor allem, wenn ich irgendeine Rolle in der Geschichte spiele, und sei es auch nur am Rande. Bad oder Sad Ends lassen mich oft betroffen zurück.

Manchmal nimmt es der Geschichte allerdings ein bisschen Schwung, wenn man mit dem Erzählen wartet, bis sie vorbei ist. Deshalb frage ich mich gerade, was ich mit der Textnachricht meines Mannes vom gestrigen Tag machen soll. Darüber schreiben? Oder einfach so tun, als hätte ich sie niemals bekommen?

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich viele Pläne geschmiedet habe und vor Vorfreude auf bestimmte Ereignisse fast geplatzt wäre. Ich habe zum Beispiel total gern Urlaubsreisen geplant, im Internet nach Bildern gesucht und Dokumente mit möglichen Ausflugszielen erstellt, Reiseführer gewälzt und auf Google Maps nach Fahrtdauern von Unterkünften zu sehenswerten Orten recherchiert. Ich habe Kindergeburtstage organisiert, Schatzsuchen entworfen, Einladungskarten gebastelt, Muffins gebacken und die Wohnung geschmückt. Ich habe mich auf Events gefreut: Konzert- und Theaterbesuche, Feiern, Treffen mit Freunden, Sportveranstaltungen. Das war eine wirklich schöne Zeit. Nur leider kommt sie mir wahnsinnig weit weg vor. Im Laufe der vergangenen zwei Jahre ist mir die Vorfreude irgendwann abhandengekommen. Anstehende Reisen, Events und Geburtstage sorgen heutzutage eher dafür, dass ich angespannt bin. Kann alles wie geplant stattfinden? Sind alle gesund? Ich traue mich nicht mehr, mich vorzufreuen, obwohl ich es wirklich gern würde.

Ich habe schon recht früh in meinem Leben vermittelt bekommen, dass es ratsam ist, in Worst-Case-Szenarien zu denken. Das ist seltsam, denn ich habe damals nie etwas Schlimmes erlebt. Es war immer alles total gut. Dieses Denken in Worst-Case-Szenarien sollte mich dazu befähigen, mit Ereignissen umzugehen, die nie eingetreten sind. Aber vielleicht hilft mir das Erlernte ja jetzt.

Und damit zurück zur Geschichte, die noch nicht zu Ende ist, die ich jetzt aber trotzdem erzähle: Vor gut zwei Jahren wollten wir nach Oslo fliegen, dieser Kurztrip fiel coronabedingt ins Wasser. Zu Pfingsten – also jetzt! – wollen wir die Reise endlich nachholen. Ich versuche mir den Anschein zu geben, dass mir der Trip eigentlich egal ist. Ich tue ganz unbeteiligt und ganz unvorfreudig. Aber – um ehrlich zu sein – ich habe mal wieder ein Dokument mit Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten erstellt. Morgen soll es losgehen. Das hoffe ich zumindest.  

Am Dienstagabend habe ich mit meinem Mann telefoniert, der auf Dienstreise in Spanien ist. Er klingt ein bisschen heiser. Nachwirkungen der Hochzeit, die wir am Wochenende besucht haben. Sie war sehr schön, aber die Temperaturen waren arktisch. „Geht’s dir gut?“, frage ich besorgt. „Ach, das ist nichts“, erwidert er. „Du hättest mal meine Kollegin hören sollen, neben der ich den ganzen Tag gesessen habe. Die hat die ganze Zeit gehustet.“ „Ach so?“ „Ja, aber die hat sich auch getestet. Negativ.“ „Ach so.“

Am Mittwochmittag kommt die Textnachricht, die ich am liebsten umgehend gelöscht hätte. Mein Mann schreibt in etwa Folgendes: „Die Kollegin ist heute nicht zur Sitzung erschienen. Ich dachte, sie kuriert ihre Erkältung aus. Aber sie hat Corona.“ Beim Lesen wird mir heiß und kalt.

Vielleicht hilft es also jetzt, in Worst-Case-Szenarien zu denken, das habe ich doch schließlich gelernt. Im schlimmsten Fall hat sich mein Mann erneut infiziert, wird noch in Spanien krank und muss dort in Quarantäne. Mir wird wieder heiß und kalt. Vielleicht sollte ich versuchen, nicht ans Allerschlimmste zu denken, sondern vorerst nur Bad-Case-Szenarien zu entwerfen. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf: Mein Mann soll sich einfach nicht testen. Oder: Ich fliege mit den Mädchen allein nach Oslo. Oder aber: Wir fliegen alle und ich bete (das tue ich im Flugzeug ohnehin, damit wir nicht abstürzen). Oder: Ich halte solange die Luft an, bis Corona vorbei ist. Oder: Ich setze mir ein Aluhütchen auf. Oder vielleicht: Mein Mann wird krank und steckt uns alle an und wir können nächste Woche nicht Supergirls Geburtstag nachfeiern, den wir coronabedingt von Februar auf Juni verschoben haben.

Ich weiß, es gibt Schlimmeres. Sogar viel Schlimmeres. Aber irgendwo tief in mir drin, wo früher einmal die Vorfreude gewohnt hat – an der Tür hängt eine Geburtstagsgirlande und auf dem Tisch stehen Cupcakes –, würde ich wirklich gern nach Oslo fliegen. Ich habe doch jetzt extra 109 Tage Norwegisch gelernt.

6 Kommentare zu „Zum ersten Mal: Vorfreude verlernt“

  1. Oh, wie blöd. Wie lange ist denn die letzte Infektion bei ihm her? Vielleicht besteht tatsächlich begründet Hoffnung, dass er sich nicht (schon wieder) angesteckt hat. Ich drücke fest die Daumen, denn Vorfreude sollten wir wieder haben dürfen. Es ist doch die schönste, wie es so schön heißt. LG Anke

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  2. Schützt es, in Worst-Case-Szenarien zu denken? Mein Mann denkt andauernd in Worst-Case-Szenarien. Zu viel, für mein Empfinden. Es lähmt mich manchmal oder schlimmer noch, ich kann dann auch nicht anders als. Zu schön ist es doch, sich der Vorfreude hinzugeben oder einfach mal unbedarft an Gutes zu glauben, sich von etwas Verrücktem begeistern zu lassen, sich darauf zu stürzen, seinem Bauchkribbeln zu folgen. Dieses Denken in Worst-Case-Szenarien ist so, wie soll ich sagen, erwachsen. Natürlich läuft nicht immer alles rund und es würde mir sehr leid tun, wenn das mit Norwegen jetzt nicht für euch klappt! Dennoch, wo kommen wir denn hin, wenn wir auf all die schönen, geschehenen Dinge zurück blicken und immer denken: „So viele Sorgen umsonst gemacht.“ Aber vielleicht bin ich auch einfach nur zu unbedarft und sogar naiv oder in mir schlummert im Gegenteil eine ganz alte Seele. Ich höre meinen Vater (78) zu mir sprechen: „Du wirst sehen, dass alles irgendwie seinen Weg geht und viele Bedenken, die dich jetzt drücken, im Lebensrückblick kaum mehr von Belang sind.“ Ein bisschen fühle ich was er damit meinen könnte.
    Wie wäre es, wenn wir anfangen würden im Best-Case-Szenarien zu denken? Zum Beispiel: Bestimmt bleiben alle gesund. Und wenn nicht, die Norwegenreise läuft uns nicht weg. Ich habe Zeit, noch ein bisschen länger in die Sprache einzutauchen. Geben wir der Vorfreude genussvoll noch ein wenig Raum. Machen wir das Beste aus der Situation und holen uns den Zustand zurück, als wir die vielen Dinge noch gerne taten! Fazit: Ich glaube, es schützt uns mehr in Best-Case-Senarien zu denken 🙂 und hoffe, dass ich mir meine eigenen Worte zu Herzen nehme ;-). Gar nicht so leicht.
    Danke für deinen Artikel! Er hat mich nachdenken lassen.

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  3. Ich habe heute etwas gelesen, das gut zu diesem Thema passt:
    „Wenn du dich sorgst, bevor etwas überhaupt passiert, leidest du zweimal. Deshalb lass lieber alles sorglos auf dich zukommen.“

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