Immer wieder: Nobody is perfect

oder: Der vergessene Nikolausstiefel

Anfang Dezember hat Baby Boss an einer Nikolaus-Aktion teilgenommen, die unser nächstgelegener Supermarkt jedes Jahr veranstaltet. Ich hatte ihr von dort einen Nikolausstiefel aus Pappe mitgebracht, den Baby Boss bemalen, falten und dann wieder im Laden abgeben sollte, was sie auch tat. Fleißige Mitarbeiter befüllen die Stiefel mit Schokoladenweihnachtsmännern, Mandarinen, Äpfeln und Co. und ab dem Nikolaustag können sie die Kinder wieder abholen.

Am Nikolaustag hatte ich einen positiven Corona-Test, am Tag darauf lag Baby Boss ohne Corona, aber mit Husten und Fieber flach. Sie ging mehrere Tage nicht in die Schule, lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörte Hörspiele in der Heavy Rotation. Ich ging mehrere Tage nicht ins Homeoffice und saß meine Zeit im Schlafzimmer ab. Die anderen drei testeten sich und gingen dann negativ ihren jeweiligen Beschäftigungen nach. An den Stiefel dachte niemand mehr.

Erst zwei Wochen später fiel er mir wieder ein. Ich stand in besagtem Supermarkt an der Kasse und schlagartig kam die Erinnerung an den Stiefel, die gesamte Nikolaus-Aktion und Baby Boss‘ Teilnahme zurück. Innerhalb von Sekunden zogen alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Nikolausstiefel an mir vorüber: die mehr oder weniger bekrakelten von damals und die säuberlich ausgemalten von jetzt und später. Ich fühlte mich wie eine Rabenmutter und zeitgleich wie eine Rabenkundin. Keine Wertschätzung für die Mühe, die sich Baby Boss gemacht hatte (naja, eigentlich hatte Supergirl fast alles ausgemalt), und für die Arbeit, die die fleißigen Mitarbeiter in die Stiefel-Aktion gesteckt hatten. Ich stellte mir vor, wie Baby Boss‘ Stiefel verwaist in irgendeinem Regal gestanden hatte. Vermutlich hatte er geweint, bis er irgendwann im Altpapier landete.

Es gibt eines, was mir vor allen anderen Dingen wichtig ist: Ich möchte meinen Töchtern eine gute Mutter sein. Dabei geht es nicht um mich, ich möchte mir oder anderen nicht irgendetwas beweisen, mir nicht auf die Fahne schreiben können „Hach, wie mache ich meine Sache doch wunderbar!“. Es geht allein um sie. Denn wenn es jemanden gibt, der es verdient hat, eine gute Mutter zu haben, dann diese drei Mädchen oder jungen Frauen. Ich kann es gar nicht anders sagen: Ich würde sprichwörtlich alles für sie tun. Und zwar ohne mit der Wimper zu zucken. (Ich räume ihnen sogar die halb abgeschleckten Joghurtbecherdeckel hinterher, aber das sollte ich mir vielleicht im nächsten Jahr abgewöhnen.)

Leider fallen mir zu jeder meiner Töchter Situationen ein, in denen ich irgendetwas falsch gemacht habe. Das tut mir im Nachhinein sehr leid. Ich kann mich zum Beispiel noch daran erinnern, wie ich Baby Boss vor ein paar Jahren im Urlaub bei einem Ausflug davor gewarnt habe, zu schnell zu rennen. „Pass‘ auf, dass du nicht hinfällst“, habe ich gesagt. Aber sie rannte trotzdem schnell. Und fiel hin. Es begann ein großes Weinen und Wehklagen. Mein Mann lief eiligen Schrittes zu ihr, ich nicht. Baby Boss schaute mich an, als ob ich gerade aus der Hölle emporgestiegen sei. Eine Mutter, die nicht sofort zu ihrem Kind rennt, um es zu trösten! Für eine Sekunde wähnte ich mich im Recht, dachte bestimmt so etwas wie: „Habe ich’s dir doch gesagt.“ Dann merkte ich, dass kein Platz für solche Gedanken ist, wenn sich die kleine Tochter das Knie aufgeschlagen hat, und fiel ins allgemeine Trösten mit ein. Dennoch denke ich manchmal betreten an diesen Moment zurück. Ebenso wie an jenen, als Baby Boss – noch kleiner – beim Kindertanz nicht mitmachen wollte und aus dem Ballettsaal lief, um sich auf meinen Schoß zu kuscheln. Ich war schlecht gelaunt, weil SIE unbedingt hatte tanzen wollen und sich jetzt oft „so anstellte“, wie ich dachte – vielleicht, weil ich schlecht geschlafen hatte oder das Leben mit drei kleinen Kindern an diesem Tag besonders an meinen Nerven zerrte. Ich umarmte sie nicht gleich, sondern blieb für einen Moment mit verschränkten Armen wie versteinert sitzen. Auch das wird mir vielleicht ewig in Erinnerung bleiben und leidtun. Ebenso wie der Abend, an dem ich Supergirl während unserer Mutter-Kind-Kur ins Kinderzimmer verbannte. Oder der Moment, in dem ich mit Belle geschimpft habe, weil sie im Grundschulalter eine Brotbox in ihrem Zimmer versteckt hat, in dem ein altes Schulbrot lag, das ihr nicht geschmeckt hatte.

Neulich sagte Belle zu mir, dass sie unzufrieden wäre, wenn sie in einer Französisch-Arbeit keine „1+“ schreibt. Ich schaute sie ungläubig an.  „Nein?“ „Nein“, sagte sie. „Für mich musst du keine „1+“ schreiben“, sagte ich. „Ich weiß“, sagte Belle. „Aber MIR ist es wichtig.“ Und dann erkannte ich mich selbst in meiner Tochter, wie so oft übrigens. Auch ich möchte eine „1+“ bekommen, und zwar möglichst für alle Sachen, die ich leiste. Als Mutter habe ich vielleicht schon den einen oder anderen Ausdrucks- oder Folgefehler gemacht oder etwas falsch übersetzt, mir würde zur Not auch eine „1-“ reichen. Auch, wenn ich es mir fest vorgenommen habe: Ich schaffe es nicht immer, als Mutter hundert Prozent zu geben. Aber ich hoffe, dass meine Töchter immer meine bedingungslose Liebe zu ihnen spüren. Auch in Momenten, in denen ich genervt, überfordert oder müde bin. Vielleicht erfülle ich nicht immer meine Erwartungen – aber hoffentlich ihre.

7 Kommentare zu „Immer wieder: Nobody is perfect“

  1. Liebe Sophie, wieder ein wunderbarer Text, voll aus dem Leben gegriffen.
    Weißt du, was ich manchmal denke, aber das darf ja eine Mutter nicht: „Ach … mich doch alle …!“ In meiner Fürsorge bin ich nur noch die, die immer meckert. Mach einen Schal um, oder willst du krank werden. Spring nicht die Treppe runter, du fällst noch hin. Dann sage ich vor lauter Verzweiflung auch mal Sachen wie: Komm mir dann nicht und heule rum. Wenn ich liebevoll Frühstücksvorschläge mache, drei verschiedene Angebote hinstelle, nehmen sich die Frolleins etwas anderes. Rebellion scheint gerade oberstes Prinzip zu sein, und ich bin ziemlich deprimiert. Im Nachhinein tun auch mir bestimmte Reaktionen leid, aber in diesen Momenten … ist Mutter auch nur ein Mensch.
    Leider erinnere ich mich gar nicht, wie das mit mir und meinen Eltern war. Ich behaupte ja, ich war nie derart aufmüpfig. 😂 Mich tröstet es, dass junge Kolleginnen berichten, dass sie es ihren Müttern in der Pubertät auch so schwer gemacht haben. Bei denen ist es noch nicht so lange her.
    Habt entspannte Weihnachten, wenn es nicht so perfekt ist, wird es am besten!
    Liebe Grüße, Anke

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    1. Liebe Anke, das mit dem Deprimiertsein kenne ich auch. Da müssen wir jetzt irgendwie durch…
      Ich wünsche euch auch wunderschöne und entspannte Weihnachten! Heute war es übrigens schon mal nicht perfekt: Wir haben eine neue Lichterkette für unseren Weihnachtsbaum und ich wollte sie morgens noch schnell vor dem Frühstück anbringen (die Mädchen haben alle noch geschlafen). Und dann habe ich festgestellt, dass die 100 Lämpchen gar keine Befestigungsringe haben, um sie an den Zweigen zu fixieren. Ich musste improvisieren und habe mit dem Kabel jeweils kleine Schlaufen gebildet, damit die Lichter nicht einfach auf dem Baum liegen oder – noch schlimmer – kopfunter herunterhängen. Eigentlich mache ich das total gern: die Lichterkette aufhängen. Heute früh habe ich dafür eine Stunde (!) gebraucht (bei einem 2,10 m großen Baum). Ich war vollkommen fertig danach!
      Herzliche Grüße, Sophie

      Gefällt 1 Person

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