oder: Take on me
Es soll unter Menschen verschiedene Schlaftypen geben: Eulen und Lerchen zum Beispiel. Lerchen sind diejenigen, die bei Tagesanbruch aufstehen und dann am aktivsten und auch gleich sehr leistungsfähig sind, dafür aber früh müde werden. Eulen sind jene, die spät ins Bett gehen und gern lange schlafen. Dann gibt es noch den „Napper“ – auch Nickerchen-Typ genannt –, der sich morgens und abends wach und ausgeruht fühlt und zwischen 11 und 15 Uhr müde ist. Und den Nachmittagstyp, der im Gegensatz zum „Napper“ morgens und abends müde ist und zwischen Mittag und Abend zur Hochform aufläuft. Wenn ich mich einsortieren soll, dann bin ich wohl am ehesten eine Lerche – auch wenn ich einen entkoffeinierten Latte macchiato brauche, um in den Tag zu starten.
Dieses Lerchenhafte führt dazu, dass ich mich manchmal schwer damit tue, mich für Aktivitäten zu begeistern, die nach 22 Uhr stattfinden. Denn da liege ich üblicherweise schon behaglich in meinem Bettchen.
Gestern hat eine meiner Freundinnen ihren Geburtstag nachgefeiert. Im SO36, einem geschichtsträchtigen Musik-Club in der Oranienstraße im Berliner Bezirk Kreuzberg. Dort fand eine 80er-Jahre-Party statt. Sie sollte um 22 Uhr beginnen. Ich war eingeladen. Ich hatte nichts zum Anziehen, das dem Motto gerecht werden würde. Darüber zerbrach ich mir die ganze vergangene Woche den Kopf.
Für den gestrigen Abend hatte ich außerdem Theaterkarten. Für ein Stück, das um 20 Uhr im Ballhaus Ost in der Pappelallee im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg gespielt werden sollte. Es hieß „Dos Vidas. Zwei Leben“ und ich hatte mich für diesen Besuch mit Goldlöckchen verabredet. Ein ehemaliger Mitschüler war einer der beiden Darsteller. Zu Schulzeiten war ich ein bisschen verknallt in ihn.
Dem vorangehenden Theaterbesuch zum Trotz sagte ich meiner Freundin, der 80er-Jahre-Party und damit zwangsläufig dem späten Zubettgehen zu. Meine Outfit-Probleme versuchte ich zu ignorieren. Ich weiß, wie sehr sich jede und jeder darüber freut, wenn die Gäste, die man einlädt, auch tatsächlich mit einem feiern.
Den gestrigen Nachmittag verbrachte ich in unserem begehbaren Kleiderschrank, der eigentlich nur ein besserer Abstellraum ist und von uns auch „Die Kammer des Schreckens“ genannt wird. Supergirl hatte dort vormittags ein bisschen aufgeräumt, so dass ich genug Platz hatte, ein 80er-Jahre-Outfit aus Teilen zusammenzustellen, die mit den 80er-Jahren nicht das Geringste zu tun haben. Am Ende waren es eine schwarz-graue Leoprint-Leggings, ein kurzer Jeansrock, wadenhohe Lederstiefel, ein schwarzes T-Shirt, Morten-Harket-Lederbänder um mein linkes Handgelenk, neon-orange lackierte Fingernägel und die Krönung: ein dunkelbraunes Sakko meines Mannes, das er zu unserer Hochzeit getragen hatte. An mir war es übergroß. Die Schulterpolster und die umgeschlagenen Ärmel machten den Look perfekt.
„Vielleicht kann dich ja dein Vater vom Theater abholen und nach Kreuzberg fahren“, hatte mein Mann gewitzelt. „Und dann wartet er dort auf dich und bringt dich später nach Hause.“
Auf der U-Bahnfahrt nach Prenzlauer Berg dachte ich darüber nach, dass es in Berlin niemandem auffällt, wenn man zu einer 80er-Party geht. Es könnte sein, dass diese Person jeden Tag so herum läuft. Wie der Mann 50plus, dem Goldlöckchen und ich in der Pappelallee begegneten und der zu seinem ansonsten völlig unauffälligen Outfit einen weinroten, knielangen Lederrock trug.
Das Theaterstück war sehr beeindruckend. Ein Gastspiel nur, so dass meine heutige Empfehlung leider zu spät kommt. Der andere Darsteller war Bolivianer, das autobiografische Stück wurde mit Untertiteln auf Deutsch und Spanisch gespielt. Nach der Vorführung stellte sich für die Zuschauer heraus, dass der bolivianische Botschafter im Publikum gesessen hatte: ein Mann im blauen Sweatshirt, die langen schwarzen Haare im Dutt zusammengebunden. „Ach, Sie sind das“, sagte unser ehemaliger Mitschüler, der jetzt als Schauspieler auf der Bühne stand, und klang dabei seiner Überraschung zum Trotz so zugewandt und charmant, wie ich ihn in Erinnerung hatte.
Mit Tram und U-Bahn wechselte ich die Location, wie man es unter Nachtschwärmern vielleicht sagen würde. Wieder fiel ich nicht auf mit meinen Leo-Leggings, wieder war ich auf angenehme Weise nur einer von vielen Menschen, die sich im Berliner Nachtleben tummelten. Und so ging es nahtlos im SO36 weiter, das ich noch nie zuvor betreten habe, aber wahrscheinlich wieder betreten werde – wenn es sein muss, auch nach 22 Uhr.
Beim Tanzen sprach mich ein weitaus jüngerer Mann an, fragte, wie meine Woche gewesen sei –„großartig“ hatte ich geantwortet – und ob ich mit Kolleginnen hier wäre. „Nein, mit Freundinnen.“ Er sei auch mit Freunden da, sagte er und deutete dabei auf zwei Mittzwanziger, die auf einer Empore tanzten: der eine mit Lärmschutzkopfhörern, der andere mit Ohrstöpseln. Ich konnte nicht umhin zu denken, dass das vielleicht eine mütterliche Anordnung gewesen sei.
Als ich am nächsten Tag beim Frühstück von der Episode erzählte, sagte Supergirl trocken: „Der Typ war doch bestimmt betrunken.“
Um halb zwei in der Nacht fuhr der Lebensgefährte einer meiner Freundinnen mit seiner Familienkutsche vor dem SO36 vor, räumte die Kindersitze in den Kofferraum und chauffierte uns sicher und bequem durch das nächtliche Berlin ins heimische Friedenau. Genauso hätte es mein Vater gemacht.
Heute Morgen bin ich um acht Uhr aufgewacht und fühlte mich – fit. Mein Geheimnis: Apfelschorle statt Gin. Der frühe Vogel fängt den Wurm.
Dit is Berlin – wo Männer knielange Lederröcke tragen können und 80er-Jahre-Outfits nicht weiter auffallen… Liest sich nach einem gelungenen Abend beim Theater und im SO36 (wo ich ewig nicht mehr war).
Danke für den kurzweiligen und lustigen Text!
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Vielleicht treffen wir uns ja mal zufällig im SO36 bei einer 80er-Jahre-Party. Kann ich nur empfehlen. Ich bin die mit dem Oversized Sakko. 😉
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Nur bis halb zwei? Also in den 80ern, wenn da etwas um 22 Uhr anfing, blieb man mindestens bis es hell wurde. Na gut, das war im Sommer. 😄
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Ja, ja, FRÜHER!!! Früher wäre ich auch noch länger geblieben. 😉 Und da hätte ich vielleicht auch nicht nur Apfelschorle getrunken. 😉
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Hach ja, die wilden Zeiten. Schön waren sie. 😎
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Ja, das waren sie!!!
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Der Theaterbesuch vorher war perfekt, sonst hättest du „so spät“ doch nicht mehr aus dem Haus gewollt. Das sagt eine, die sich auskennt. Ich bin wohl eher eine Eule, vor allem, was den morgendlichen Part angeht. Aber raus aus dem Haus will ich so spät auch nicht mehr, seit ich ein gewisses Alter überschritten habe bzw. seit ich Mutter bin.
Klasse, das klingt alles zusammen nach einem unheimlich unterhaltsamen Abend, für den sich das Wachbleiben gelohnt hat.
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Liebe Anke, ja, das hat es sich auf jeden Fall!
Ich musste ein bisschen an dich denken, weil wir uns neulich auf deinem Blog über die späten Anfangszeiten in italienischen Theatern ausgetauscht haben. Und du erzählt hast, dass auch die Fernsehfilme erst um 21.30 Uhr beginnen. Die Italiener sind also alle eher Eulen, oder? 😉
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Zwangsweise. Ich kenne aber auch (einen) Lerchenmann, der steht auch mal um vier Uhr morgens auf, um seine Joggingrunde zu drehen. Der guckt abends allerdings weder fern noch geht er ins Theater. 😅
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Handelt es sich bei dem Lerchenmann zufällig um DEINEN Mann?
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Nee, absolut nicht. 😅 Um einen Kollegen.
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Hihi. Ich hatte deinen Mann auch nicht unbedingt um vier Uhr früh joggend vor Augen. Aber ich kenne ihn ja nur vom Blog. Könnte ja sein, dass du diese supersportliche Lerchenseite von ihm bisher geschickt vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten hast. 😉
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