Zum letzten Mal: Mathe erklären

oder: Drama Queen sperrt sich

Es gab einmal eine Pandemie, die hieß Corona. Schulen und Kitas wurden geschlossen, die Menschen darum gebeten, zu Hause zu bleiben. Wer konnte, arbeitete im Homeoffice. Pflegekräfte, Ärzte und sämtliche Klinikangestellte schufteten über ihre Belastungsgrenze hinaus in Krankenhäusern. Die Schulkinder bekamen Aufgaben, die sie in ihren eigenen vier Wänden lösen sollten. Wenn sie dabei Hilfe brauchten, fragten sie ihre im Homeoffice beschäftigten Eltern. Wenn die Eltern bei irgendetwas Hilfe brauchten, wussten sie nicht, beim wem sie nachfragen sollten. Heute redet kaum noch jemand über diese Zeit. Manche haben die Geschehnisse vielleicht verdrängt, für andere fühlt es sich wie ein schlechter Traum an. Einige konnten dem Geschehen sogar etwas abgewinnen: von wegen Entschleunigung und so. Ich gehöre nicht dazu.

In den Monaten, die wir im Homeoffice und mit Homeschooling verbrachten, entdeckte ich Lehrer Schmidt. Er konnte zwar nicht meine großen und drängenden Fragen beantworten, die sich während der Pandemie in meinem Kopf auftürmten: Wird jemand von uns krank? Wenn ja, wie schwer? Werden wir das alle überleben? Wird es irgendwann wieder normal werden oder bleibt es jetzt so? Aber immerhin konnte ich ihn zurate ziehen, wenn ich die Matheaufgaben meiner Kinder betreute und selbst nicht (mehr) wusste, was – um alles in der Welt! – ich eigentlich tun sollte. Lehrer Schmidt bietet über seine Webseite und bei YouTube Erklärvideos in Mathematik, Physik und Deutsch an. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich nachschauen musste, wie man schriftlich dividiert. Aus mir unerklärlichen Gründen hatte ich das seit rund 30 Jahren nicht mehr gemacht. Dabei scheint es doch wichtig zu sein.

Als der erste Lockdown begann, steckte Baby Boss im zweiten Halbjahr der ersten Klasse, Supergirl war in der vierten, Belle in der siebten. Baby Boss brach zu dieser Zeit häufig über ihre Aufgaben in Tränen aus, schlug mit ihrem Kopf auf ihr Heft so wie der Pianist in der Sesamstraße auf die Tasten seines Klaviers. Ich dachte damals, das hätte mit Corona zu tun, mit dieser Belastungssituation, mit dem ganzen Drum und Dran. Aber ich hatte mich geirrt. Baby Boss fühlt sich von Hausaufgaben persönlich beleidigt, zumindest, wenn es um Mathe geht. Das ist auch heute noch so. „Wozu muss ich überhaupt Mathe lernen?“, fragt sie und rauft sich theatralisch das Haar. „Ich möchte Schauspielerin werden. Da brauche ich das alles nicht!“ „Du kannst meinetwegen Schauspielerin werden“, sage ich und hole zum Gegenschlag aus: „Aber dann wäre es gut, wenn du täglich Klavier üben würdest. Denn um einen Platz auf der Schauspielschule zu bekommen, sollte man ein Instrument spielen können.“ Für einen Moment ist Baby Boss‘ Miene wie eingefroren. Dann wechselt sie schnell das Thema.

Ich gebe zu: Mathe gehörte auch nicht zu meinen Lieblingsfächern. In der Grundschule hatte ich fast immer Einsen, ab der siebten Klasse auf dem Gymnasium ging es eigentlich ganz okay weiter: mit Zweien und Dreien. Während der elften Klasse war ich ein Jahr im Ausland, und als ich zurückkam und direkt in die Kursoberstufe einstieg, konnte ich gar nichts mehr und hatte auch keinerlei Ehrgeiz, daran etwas zu ändern. In den vier Semestern bis zum Abi hatte ich in Mathe eine „Drei minus“, eine „Vier minus“, eine „Fünf plus“ (Autsch!) und noch eine „Fünf plus“.

Vielleicht weiß ich heute deshalb nicht mehr, wie man schriftlich dividiert. Meine Stärken lagen woanders. Möchte jemand einen meiner Leistungskurse raten? Na, wer traut sich? Richtig, es war Deutsch. Und ich habe es geliebt. Baby Boss, die mittlerweile in der vierten Klasse ist, findet Deutsch langweilig. Ein Stich in mein Herz. Ihre Lieblingsfächer sind Sport, Englisch und Musik. Vielleicht besucht sie später auf dem Gymnasium den Kurs Darstellendes Spiel, um ihre Mathenote auszugleichen. Die Drama Queen beherrscht sie schon. Oder beherrscht die Drama Queen Baby Boss? Ich weiß es nicht.

Manchmal denke ich: Wenn sich Baby Boss ihr Lamento sparen und sofort damit beginnen würde, ihre Aufgaben zu bearbeiten, wäre sie sehr viel schneller damit fertig. Stattdessen hadert und heult sie und zieht die Hausaufgabenzeit damit unnötig in die Länge. Vielleicht probt sie aber auch einfach eine Rolle. Es ist nicht die von Ada Lovelace.

Als ich Baby Boss vor ein paar Tagen bei den Mathehausaufgaben helfen sollte, ging es um Teilbarkeitsregeln. Kann sich jemand daran noch erinnern? Ja? Du da hinten mit der Nerd-Brille? Ich jedenfalls stand auf dem Schlauch: „Eine Zahl ist dann durch 3 teilbar, wenn ihre Quersumme durch 3 teilbar ist.“ Da musste ich erst mal kurz überlegen, was überhaupt eine Quersumme ist. Und ich merkte, wie sich in mir leichter Widerstand gegen die Teilbarkeitsregeln im Allgemeinen und die Hausaufgaben im Speziellen regte. In solchen Momenten fühle ich mich an die Worte eines unserer Repetitoren im juristischen Repetitorium erinnert, der gern sagte: „Sperren Sie sich nicht!“

Um es kurz zu machen: Für Baby Boss‘ Aufgaben fehlten mir die Nerven. Mein Mann übernahm, er ist ohnehin klüger als ich. Es scheint ein gängiges Modell zu sein. Meine Freundin Pippilotta, die ich hier so nenne, weil sie lange Zeit in Schweden gelebt hat und zu den stärksten Frauen gehört, die ich kenne, sagte neulich: „Mathe habe ich outgesourct.“ Das lerne ihr Mann mit den Kindern. Vielleicht wäre das auch der richtige Weg für mich. Wenn es um Mathe geht, habe ich nämlich zu oft das Gefühl, es nicht zu verstehen – und auch nicht verstehen zu wollen. Ich sperre mich! Eigentlich bin ich also keinen Deut besser als Baby Boss. Aber das ist doch kein Drama, oder?

7 Kommentare zu „Zum letzten Mal: Mathe erklären“

  1. Da erinnert mich Baby Boss aber stark an unsere Jüngste, die immer sagte: „Mathe? Brauch ich nicht. Ich werde Sängerin.“ Wir haben dann immer argumentiert, dass sie mit Zahlen und Prozenten umgehen können muss, damit man sie mit den Verträgen und dem Geld, dass sie als Popstar verdient, nicht über den Tisch zieht. Gilt auch für berühmte Schauspielerinnen. 😉

    Gefällt 1 Person

    1. Ich habe einmal zu Baby Boss gesagt, dass sie ja zum Beispiel Prozentrechnung gut gebrauchen könnte, um im Sale zu wissen, wieviel sie sparen würde. Daraufhin sagte sie: „Ich werde so viel Geld verdienen, dass es egal ist, ob ich Prozente bekomme oder nicht.“
      Aber ich werde nochmal versuchen, mit den Verträgen und Schauspielergagen zu argumentieren. 😉

      Gefällt 1 Person

  2. Danke für den witzigen Beitrag! Ja, Mathe ist nicht jedermanns Sache, und ich habe mich während meiner Schulzeit auch oft gefragt, wieso ich das wissen muss. Aber jetzt bin ich schlauer: Man braucht es, um später seinen Kindern bei den Hausaufgaben helfen zu können – vor allem als Vater scheint man da gefragt zu sein 😉

    Gefällt 1 Person

  3. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem du zum ersten Mal in deiner Schulzeit eine „fünf“ bekommen hast – für eine Mathearbeit in der Oberstufe.
    Du hast nur zögerlich davon berichtet, obwohl mir solche Mathezensuren durch deinen Bruder bereits bekannt waren. Ich habe dich dann einfach in den Arm genommen und wir haben beide von Herzen gelacht.
    Mathe war eben nicht deine Sache – aber du kannst richtig gut schreiben!

    Gefällt 1 Person

    1. Ich meine, mich auch daran erinnern zu können… Es lässt einen natürlich nicht kalt, mit so einer schlechten Note nach Hause zu kommen. Vielleicht vor allem dann nicht, wenn es nicht zur Tagesordnung gehört. Deine damalige Reaktion hat mir jedenfalls sehr geholfen. 🙂

      Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s